624. Die Frühmette zu Speinshart.

[167] Mündlich.


Der Nachtwächter zu Speinshart ging, die Mitternachtsstunde zu rufen. Als er nun bei dem ehemaligen Kloster vorbeiging, sah er auf einmal die Kirche von unzähligen Lichtern erleuchtet. Schon fünfzig Jahre lang hatte er zu Mitternacht diesen Weg gemacht, aber niemals[167] solche Erscheinung wahrgenommen. Neugierig wollte er sich von der Ursache derselben überzeugen und kletterte an einem Fenster der Kirche hinauf. Da sah er zu seiner höchsten Verwunderung mehr als hundert Mönche mit brennenden Kerzen im Schiffe und im Chore der Kirche. Auf einmal huben sie an die Psalmen und Hymnen der Mette zu singen, also daß die Fenster der Kirche von dem Klange der Orgel und des Chorgesanges erdröhnten. Die Mönche waren todtenbleiche, schreckbare Grabesgestalten, bei deren Anblick es den Nachtwächter eiskalt überlief. Mit dem Glockenschlage Eins verschwand die Erscheinung, und der Nachtwächter stieg halb ohnmächtig und betäubt vom Kirchenfenster herunter.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 167-168.
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