636. Die Kunigundenlinde im Burghof.

[186] Mündlich. – Variante der von uns I., 133 mitgetheilten Sage.


Kaiser Henricus pflag eines Tages der Jagd in den Nürnbergischen Wäldern. Sehnsüchtig harrete sein treues Gemahl Kunigundis des Heimkehrenden. Als es aber schon Abend wurde und der Kaiser noch immer nicht kommen wollte, da ward die edle Frau bekümmert in ihrem Herzen und schaute ein um das andere Mal sorgenvoll von dem Söller der Burg in die Weite. Endlich verkündete das Gebell der Hunde und der Hufschlag der Rosse die Ankunft des theuern Herrn. Voll Freude ging ihm die Kaiserin entgegen und fragte ihn, warum er doch heute viel später[186] als sonst von der Jagd zurückkehrte? Darauf ihr Heinrich entgegnete, wie er vor Allem Gott danken müsse für wunderbare Erhaltung seines Lebens. Denn als er in pfeilschnellem Ritte einer Hindin nachgesetzt, habe sich nur wenige Schritte vor ihm ein Abgrund aufgethan, in welchen er mit seinem Rappen unaufhaltsam hinabgestürzt wäre, wenn nicht ein uralter, schwarzer, vom Blitzstrahl halb verkohlter Lindenstamm am Rande der Schlucht das Roß zurückgeschreckt hätte. Zum Andenken habe er sich von den wenigen grünen Zweiglein der Linde eines mitgenommen, dasselbe seinem treuen Gemahl zu verehren. Mit Dankesthränen in den Augen soll die Kaiserin das Zweiglein empfangen und alsogleich in dem Hofe der Burg in frischen Boden gepflanzt haben, wo es dann zu einem herrlichen Baume emporwuchs.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 186-187.
Lizenz:
Kategorien: