656. Der quillende Brunnen.

[204] Happel relat. curios. V., 43 bei Grimm d.S.I., 162.


An einem Berge in Franken quillet ein Brunnen, wobei ein vornehmes adeliches Geschlecht sein Stammhaus hat. Das ganze Jahr über hat er schönes, lauteres, überflüssiges Wasser, das nicht eher aufhöret, als wenn Jemand aus demselbigen Geschlecht sterben soll. Alsdann vertrocknet er so stark, daß man auch fast kein Zeichen oder Spur mehr findet, es sei jemals ein Brunnen daselbst gewesen. Als zur Zeit ein alter Herr des gedachten adelichen Stammes in fremden Landen schwer erkrankte und bereits achtzigjährig seinen baldigen Tod muthmaßte, fertigte er in seine Heimath einen Boten ab, der sich erkundigen sollte: ob der Brunnen vertrockne? Bei der Ankunft des Boten war das Wasser versiegt, allein man gebot ihm ernstlich, es dem alten Herrn zu verschweigen, vielmehr zu sagen: Der Brunnen befinde sich noch richtig und voll Wasser, damit ihm keine traurigen Gedanken erweckt würden. Bei der Rückkehr des Boten, der ihm das Beste versicherte, lachte der alte Graf und strafte sich selbst, daß er von dem Brunnen abergläubisch zu wissen gesuchet, was im Wohlgefallen Gottes stünde, und schickte sich getrost zu einem[204] seligen Abschied an. Plötzlich aber wurde er besser, und konnte in Kürze sein Krankenlager verlassen. Damit der Brunnen nicht vergebens versiegte und ihm seine seit langen Jahren eingetroffene Bedeutung bestünde, trug es sich zu, daß aus diesem Geschlechte ein junger Graf von einem untreuen Pferde abgeworfen, gleich zu der nämlichen Zeit Todes verfuhr.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 204-205.
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