700. Der Wallfisch zu Würzburg.

[234] Mündlich.


In der guten alten Zeit unserer Ahnen war die Sang- und Dichtkunst nicht so unbeachtet beim Volke, wie in der gegenwärtigen Zeit, wo man Dichter im Elende zu Grunde gehen läßt, wovon wir Beispiele erzählen könnten. Damals zogen die Meistersänger und fahrenden Schüler im[234] Lande herum, und brauchten nirgends eine Paßkarte aufzuweisen. Sie stimmten ihre Lieder an, und wo sie einsprachen, waren sie willkommen und wurden auf's Beste bewirthet und verpflegt. Da steht zu Würzburg in der Bankgasse ein Haus, worin jetzt eine Bierwirthschaft ist. In diesem Hause nun sprach in jenen Zeiten einmal ein fahrender Schüler ein, und wurde sehr herzlich aufgenommen. Dem Hausherrn gefiel besonders ein Lied vom Propheten Jonas im Wallfischbauche, das der fahrende Schüler nicht oft genug singen konnte. Da der Hausherr unersättlich in seinem Verlangen war, das Jonaslied zu hören, mußte ihm der fahrende Schüler versprechen, drei Tage lang sein Haus nicht zu verlassen. Als der dritte Tag zu Ende war, veranstaltete der Hausherr seinem theuren Sängergaste einen Abschiedsschmaus, und lud seine Freunde dazu ein. Der fahrende Schüler sang beim Weggehen, er komme jetzt auch nach drei Tagen wie der Prophet Jonas aus dem Wallfischbauche. Von der Zeit an nannte man dies Haus den Wallfisch, und so wird es noch jetzt vom Volke geheißen.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 234-235.
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