705. Der Schenkenthurm bei Würzburg.

[237] Mündlich.


Im Schenkenthurme hauset ein Lindwurm und ein Zwerg. Die Ritter des Schenkenschlosses, von dem nur ein Thurm und einige alte Mauerreste heut zu Tage noch übrig sind, waren Raubritter. Von der Burg führte ein geheimer Gang bis an den Main, und war mit einer an einem Drahtzuge hängenden Glocke versehen, wodurch ihnen jedesmal verkündet wurde, wenn ein Kaufmann des Weges zog. Tief in dem finsteren Schachte des verfallenen Gemäuers liegt geraubtes Gut aufgehäuft, von dem Lindwurm bewacht. Um Mitternacht kommt aus dem nahen Gehölze ein Zwerglein dahergeritten und führt auf einem schwarzen Rappen neben sich ein schwarzes Gerippe in Ketten nach dem Thurme. Da bekommt das Gerippe wieder Fleisch und wird von dem Lindwurm umfaßt und zu Staub gepreßt. Es steigen Flammen auf und verzehren das Gerippe nebst dem Lindwurm; aus der Asche wallen scheußliche Würmer auf, welche sich selbst aufzehren. Da siedet's und braust's unten, und eine große Feuerglut umzischt den alten Thurm. Wenn der Vollmond vor dem nahenden Tage sich verbirgt, besteigt das Zwerglein wieder seinen luftigen Rappen und reitet in's Gehölze zurück.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 237.
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