710. Der Vogelsteller von Würzburg.

[240] Von AlexanderKaufmann. – V. Karajan (Vortrag über Walther in der Sitz. der hist.-philos. Klasse der Akad. zu Wien am 1. Oktober 1851) läßt des Sängers Grab nicht von »Trauerweiden,« sondern von »der Linde« beschattet sein.


Wie lustig rauscht's, wie lustig schwirrt's

Von Vögeln aller Arten!

Doch plötzlich schweigt es, stille wird's

Im grauen Münstergarten.


Das Völklein merkt's: Es naht die Zeit,

Die Trunk und Körnlein spendet,

Wie's Walther von der Vogelweid

Den Sängern zugewendet.


Doch heute säumt der Sakristan

Ganz ungewohnter Weise –

Da steigt ein Bursch den Baum hinan

So leise, leise, leise –


Was freut ihn lust'ger Vogelsang?

Er freut sich schon im Sinne,

Gelingt ihm heut der gute Fang,

Am morgigen Gewinne:


»Zwei Pfennige die Nachtigall'

Zwei Amseln einen Heller« –

Da knickt der Ast, ein schwerer Fall:

Todt liegt der Vogelsteller! –


Als schnöde Habgier Trunk und Korn

Den Vöglein weggenommen,

Warum hat da nicht heller Zorn

Den Rächer überkommen,


Daß er mit jähem Strafgericht

Die Gierigen erschlagen,

Die einem armen Vogel nicht

Gegönnt ein kurz Behagen,


Die gleich der Spreu des Dichters Wort

Geschlagen in die Winde?

Ach, lange war der Baum verdorrt,

Herrn Walthers treue Linde!

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 240-241.
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