722. Der Todtenzug.

[251] Mündlich.


Am Sonntage Lätare wurde vor Alters in vielen Orten Frankens der Todtenzug gefeiert. Die Jugend verfertigte ein Phantom von Stroh, das den Tod vorstellen sollte, und trug es auf einer Stange im Dorfe oder der Stadt herum, dann in die benachbarten Ortschaften, und verbrannte es zuletzt. Der Zug fing nach dem vor der Predigt verlesenen Evangelium an. Man wähnte, daß, wenn diese Feierlichkeit unterbliebe, ein allgemeines Sterben folgen würde, oder daß Jemand aus dem Hause noch in diesem Jahre sterben müsse, an welchem dieses Phantom stehen bliebe. Man eilte also gleich dem Zuge mit Geschenken entgegen. Sie[251] bestanden gemeiniglich in Milch, Erbsen und dürrem Obste. Manche benachbarte Ortschaften aber zogen wie gegen einen gemeinschaftlichen Feind bewaffnet aus und trieben ihn von ihren Grenzen ab.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 251-252.
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