884. Die Jakobsbrüder.

[416] Nach Lentner, Geschichten aus den Bergen 1851.


Es hängt in der Kirche »Maria unter der Ecke,« unweit Peitingen, eine alte Tafel, gerade kein Kunststück, was die Malerei anbelangt, doch des Gegenstandes halber, den ihre Schildereien darstellen, immerhin werth, daß man sie näher besehe.

Das ziemlich große, da und dort schon etwas schadhafte Bild ist in viele etwa sechszehn oder zwanzig, Felder eingetheilt, in welchen die verschiedenen Begebnisse einer Geschichte nach der Ordnung ihres Verlaufes abkonterfeiet sind, zu deren Gedächtniß das Gemälde vor langen Jahren gefertiget worden ist. Unter jedem der einzelnen Bilder ist ein Reimspruch zu lesen, und abermals, wie bei dem Meister Maler, muß man an des Dichters Werk nicht so fast seiner Reime Zierlichkeit, als vielmehr ihren Inhalt in Anschlag bringen.

Vor etwa drei- oder vierhundert Jahren – so lange her ist es gewiß, weil bemeldete Tafel bereits Anno 1628, wenn ich mich recht entsinne, renovirt wurde, wie darauf zu lesen – waren unter allem Christenvolk die Pilgerfahrten nach manchen heiligen Orten noch viel im Brauche. Obenan in der Reihe solcher vielbesuchter Stellen blieb freilich noch immer unsers Heilandes Grab zu Jerusalem, und das Land Palästina, allwo in[416] die Fußtapfen des Herrn die Betfahrer wandern konnten von der Krippe in Bethlehem bis auf den Kalvarienberg; aber dazumal war es bereits wieder mit mächtigen Schwierigkeiten und vielfachen Gefahren verbunden, dahin zu gelangen. Das christliche Königreich Jerusalem war wieder an die Ungläubigen verfallen, und so wendete sich die fromme Wanderlust um so eifriger nach den gottbegünstigten Orten des Abendlandes, gen Rom, nach Loretto, vor Allem nach Sanct Jakobs Grab zu Compostella im spanischen Lande. Es sind uns noch aus jener Zeit viele Lieder aufbewahrt, wie sie die Pilgrime sangen, welche gen Sanct Jakob fuhren und dabei viel Noth und Elend und manch Abenteuer erlitten, allzeit aber gerettet und gebessert heimkehrten, weil es Gott Allen lohnte, die Sanct Jakob dienten.

Solchen Gotteslohn zu erwerben, zog, wie meine Tafel in Bild und Schrift vermeldet, ein Mann mit seinem Sohne aus nach Compostella. Es ist dieser Pilgrime Namen nicht auf dem Gemälde verzeichnet, auch nicht, woher des Landes sie waren; so viel aber bestättiget das Lied, daß sie Deutsche waren, und ich halte sie denn gutmeinend für ein paar ehrliche Schwaben. So sehen wir nun aus ihrem friedlichen Heimwesen am Waldufer des Lechs, oder aus den Geländen des Allgäues die zween Jakobsbrüder auswandern, ganz wie das alte Lied verlangt, mit der Schüssel bei der Flaschen, den breiten Hut und den Mantel mit Leder wohl besetzt,

»es schnei oder regn' oder wähe der wint,

daß in die luft nicht nezet.«

Sack und Stab fehlen auch nicht, und so lassen wir sie das Elent bauen1 im Schweizer- und in der armen Jeken Land, in Soffeien, Langedoken und Hispanierland, lassen sie den Berg von Runzevall oder All Fabe übersteigen, wo »viel manches Biedermann's Kind aus deutschen Land begraben leit,« bis sie endlich einziehen in Sanct Jakobs Münster. – In der Stadt zu Compostella nahmen sie ihre Einkehr bei einem Wirth, einem bösen, gott- und ehrvergessenen Manne, was aber freilich die zwei Fremdlinge nicht wußten, die in dem welschen Lande die fromme Einfalt ihrer Heimath nicht aufgegeben, und noch jeden Mann für's Erste auch für einen ehrlichen ansahen. Obwohl ich dafür halte, daß der Säckel der guten Gesellen nicht allzustraff angefüllt gewesen sein mochte, so war ihr[417] Bislein Hab und Gut doch groß genug, den schlechten Herbergvater anzureizen, es durch List oder Gewalt sich anzueignen. War es nun wieder nicht sonderlich weltklug von den Betfahrern gewesen, daß sie die etlichen Goldgülten oder Silberlinge ihrer Baarschaft in der wilden Fremde so unbedenklich vor Jedermanns Augen brachten, so hielten sie wohl dafür, daß ein Gast sicher sein sollte in eines Mannes Haus, dessen Salz er genossen, und vergaßen ob des Glaubens an das gute Gastrecht ganz das Sprüchlein: »Trau, schau, wem.« Der habgierige Wirth machte aber von Stund an, da er der Fremdlinge Reisepfenning ersehen, seine Pläne und Anschläge, wie er desselben am besten habhaft würde und war vorerst der Freundlichste und Dienstwilligste gegen seine Gäste, labte sie mit Speis und Trank, wies ihnen ein gutes Lager an, und rechnete auch, was billig und bräuchlich war, so daß er in allewege für einen rechtschaffenen Gastgeb gelten mochte, wofür ihn die zween Schwaben gehalten hatten.

Also gut verpflegt, gingen diese mit desto unbeschwerterem Gemüth, ledig aller Weltsorgen, ihren geistlichen Geschäften nach, pflegten ihre Andacht am Grabe des Apostels, empfahlen ihm und dem lieben Gott ihre allgemeinen und besondern Aufliegenheiten und dachten nach genügender Zeit wieder an die Heimkehr. Rechneten darum mit ihrem Wirthe zu beiderseitiger Zufriedenheit, schliefen noch einmal in guter Bequemlichkeit recht nach Herzenslust, um für alle Strapazen gestärket zu sein, und wanderten am nächsten Tage bei guter Zeit selbander hinaus vor das Thor zu Compostella morgenwärts, wo das freilich noch weit entlegene liebe Schwabenland ihrer wartete.

Noch hatten sie nicht eine viertel Wegstunde hinter sich, da kamen auf gut ausgreifenden Pferden ihnen etliche Männer nachgetrabt, die sie anriefen, stille zu stehen in des Königs Namen. Als die Reiter sie eingeholt hatten, erkannten unsere Pilgrim alsogleich ihren Herbergvater darunter, aber auch bewaffnete Schergen und Gerichtsleute, und der Vornehmste aus diesen sprach: »Wir greifen Euch als unsere Gefangene, denn ihr seid Diebe und Räuber.« Das hörten sie mit nicht geringem Erstaunen: aber noch bestürzter und völlig verwirrt machte es sie, da ihr Wirth anhub, sie zu beschuldigen, aus seinem Hause einen kostbaren, goldenen Becher entwendet zu haben, und bei allen ihren Betheuerungen desto hartnäckiger darauf bestund, Niemand Anderer, als diese fahrenden Gauche könnten das Geschmeide gestohlen haben. Ohne ihre Eidschwüre und Klagen zu beachten, führten die Reiter sie auch zurück nach der[418] Stadt und auf das Richthaus daselbst, wo sich der Richter alsobald hinsetzte, ihnen das Recht zu sprechen, auf des Wirthes wiederholte Anklage. Und siehe, als man ihre Wanderbündel durchsuchte, fand sich in des ältern Wallfahrers Gepäck ein goldener Becher, welchen auch der falsche Gastgeb sogleich als den seinen erkannte. Es half nicht viel, daß der Pilgrim bei Gott und allen Heiligen, ja selbst bei dem Landspatron Sanct Jakob schwur, er wisse nicht, wie der Becher in seine Tasche gekommen; der Richter hatte Beweises genug für seine Schuld und sprach ihm das Urtheil, daß er solle gehenkt werden, und zwar noch in der nächsten Stunde. Sein Bislein Hab und Gut ward auch zu Händen genommen und dem Bestohlenen, dem Wirthe, zugesprochen, welcher somit sein böses Verlangen erfüllt sahe. Als nun der junge Pilgram merkte, daß kein Erbarmen und keine Rettung zu gewarten sei, da man über seinem Vater den Stab brach und ihn dem Freimann überantwortete, fiel er vor dem Richter auf die Knie und bat hoch und theuer, daß man ihn möchte an seines Vaters Statt hinwegnehmen und sterben lassen. Es hub sich ein schöner, herzergreifender Streit an zwischen den zweien armen Gesellen; ein jeder wollte dem andern zu Lieb den Tod erleiden. Dennoch bat und sprach der Sohn viel dringlicher und überredender, wie daß der Vater sich am Leben erhalten und als die nothwendige Stütze und Hülfe der Seinen zur Mutter und den Geschwistern getrost heimkehren sollte und ihm vergönne, Gott und dem vierten Gebot zu Lieb, an seine Stelle zu treten. So ward denn zuletzt der junge Betfahrer von dem Richter an seines Vaters Statt angenommen, vor die Stadt hinaus geführt und an den Galgen aufgehangen.

Zur selben Stunde lag der Alte in Sanct Jakobs Münster auf den Knieen und klagte dem Heiligen seine bittere Noth und seines unschuldigen Kindes Verlust und betete so recht aus innerstem Herzen zu Gott, brünstig und lange, bis mit einem Male ein wunderbarer Trost und Muth über ihn kam, und er in solcher gottesfreudigen Beruhigung sich aufmachte auf den Heimweg. Er mußte da an dem Hochgericht vorüber, wo sein Sohn hing, und – o Wunder! – er sah sogleich, als er einen letzten Abschiedsblick auf dessen Leiche richtete, daß noch Leben in dem Gehenkten wäre, worauf derselbe sogar ihn ansprach und zum festen Vertrauen auf Gott aufforderte, der ihnen noch sicherlich helfen werde. – Lief also der Vater stracks zu dem Richter, zeigt ihm an, was sich begeben, und dieser, nicht wenig erstaunt, geht mit ihm alsogleich hin, den wunderbaren Fall zu[419] untersuchen. Wie sie an des Wirthes Haus vorüber kamen, heißt sie eine innere Stimme eintreten und dem Bösewicht das Gericht Gottes verkünden, das also laut für die Unschuld gesprochen hatte. Sie finden den falschen Mann guten Muthes hinter einem gedeckten Tische, an welchem er es sich wahrscheinlich recht wohl sein lassen wollte, weil ihm sein Bubenstück so ganz nach Herzenslust gelungen war. Aus dem goldenen Becher trank er kühlen Wein, und hatte man ihm ein paar gebratene Tauben vorgesetzt. »Wisse, Du arger Bösewicht und Lügner,« rief ihm also der alte Pilgrim zu, »daß mein unschuldiger Sohn noch lebet durch Gott und Sanct Jakobs Hülfe, und daß deine Schandthat an den Tag kommen wird!« Da lachte der Wirth und spottete: »Ei, du alter Narr! an deine Mähr' will ich dann glauben, wenn diese gebratenen Tauben auf und davon fliegen.« Hatte kaum solche frevelhafte Worte ausgesprochen, als auch schon die Tauben aus der Schüssel sich erhoben und frisch und frei durch das offene Fenster gen Himmel flogen. Nun stand er wohl wie vom Wetterstrahl getroffen; es ließ ihn auch der Richter ergreifen und binden, und führte ihn mit sich. Derweil hatten die Fronboten des Pilgrims Knaben vom Galgen genommen, den sie gesund und wohlbehalten zu dem hocherfreuten Vater begleiteten, an seine Stelle aber noch in selber Stunde den falschen Wirth aufknüpften. Freudig und frohlockend und mit dem Gewinne eines niemals schwankenden Gottvertrauens zogen aber die zween Jakobsbrüder heimwärts, wo sie ihre wunderreiche Geschichte zu Gottes Lob und Ehr' männiglich kundthaten und vielleicht auch jene alte Tafel zu frommem Gedächtniß malen ließen, welche uns dazu verhalf, den geneigten Lesern diese alte Sage mitzutheilen, aus der sie am besten selbst die allzeit neue Lehre abnehmen mögen: »Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut,« oder: »Wer Andern eine Grube gräbt« u.s.w.

1

So sagte man vor Alters, statt »in die Fremde ziehen.«

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 416-420.
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