111. Die weiße Jungfrau auf der Homburg.

[83] Ein Knecht, welcher am Fuße der Homburg die Kühe hütete, sah einst, es war bald nach Mittag, eine weiß gekleidete Jungfrau von der Burg herabkommen. Sie kam gerades Wegs[83] zu ihm und sprach, er könne sie erlösen, nur dürfe er sich nicht fürchten; er müsse nemlich dreimal Wasser auf die Burg heraufholen, das erste Mal würden unterwegs viele Rehe auf ihn zukommen und nach ihm stoßen, doch thäten sie ihm nichts zu Leide; das zweite Mal würden viele wilde Gänse mit langen Hälsen kommen und ihn beißen wollen, doch auch diese würden ihm nichts thun; das dritte Mal endlich würde eine Heerde Ochsen mit großen Hörnern und großen glühenden Augen auf ihn losstürzen, aber auch diese würden ihm kein Leid zufügen. Auf ihre Frage, ob er sie erlösen wolle, erklärte er sich dazu bereit und folgte ihr hinauf auf die Burg. Hier gab sie ihm ein goldenes Tragholz, woran zwei goldene Eimer hingen; in diesen sollte er dreimal Wasser aus dem Thale heraufholen. Er ging damit hinunter und brachte auch die zwei Eimer voll Wasser auf die Burg; unterwegs waren zwar die Rehe gekommen und hatten nach ihm gestoßen, aber ohne ihm etwas zu Leide zu thun. Als er wieder hinuntergegangen war und zum zweiten Male Wasser heraufholen wollte, begegnete ihm eine ganze Heerde wilder Gänse, die ihre langen Hälse nach ihm ausstreckten, als wenn sie ihn beißen wollten, aber auch diese thaten ihm nichts, und er kam glücklich wieder oben an. So ging er denn auch zum dritten Male hinunter. Als er aber mit dem Wasser hinaufging, stürzte auf der Mitte des Weges eine ganze Heerde Ochsen mit großen Hörnern und großen glühenden Augen wüthend auf ihn los. Bei diesem Anblick ward er bange, warf die Eimer weg und lief davon. Die Jungfrau aber stieß, als sie dieß sah, einen gewaltigen Schrei aus und sprach: nun müsse sie erst wieder eine Eichel pflanzen, und wenn aus dieser ein Baum geworden, und der Baum abgehauen und geschnitten, und aus den Brettern eine Wiege gemacht wäre, dann könne der Knabe, der zuerst darin gewiegt sei, sie erst wieder erlösen.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 83-84.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.