1.

[91] In Mark-Oldendorf war ein armer Tagelöhner, dessen Kinder die Gänse hüteten. Eins derselben, ein Mädchen, ging nach dem Mittagsessen zu einem Brunnen unter einer Eiche, um zu trinken. Als das Mädchen sich satt getrunken und wieder aufgerichtet hatte, stand eine weiße Jungfrau neben ihm, die fragte, ob es thun wolle, was sie ihm sage. Das Mädchen antwortete »ja.« Da sprach die Jungfrau zu dem Mädchen, es könne sie erlösen. Wenn es das nächste Jahr confirmirt wäre, so sollte es in seiner Abendmahlskleidung wieder zu dem Brunnen kommen; es dürfte aber vorher mit Niemand gesprochen haben, sonst[91] könnte es sie nicht erlösen. Gelänge aber die Erlösung, so würde ihm eine große Summe Geldes zu Theil werden. Das Mädchen versprach sich einzufinden, und die Jungfrau verschwand. Als es am Abend nach Hause kam, erzählte es alles seinem Vater. Der aber ging zum Pastor, und dieser sagte, wenn das Kind nächstes Jahr confirmirt wäre, so möchte es nur an den Brunnen gehn; sie beide wollten aber schweigend folgen und sich hinter eine Hecke stellen. So thaten sie auch und sahen zu, wie das Mädchen zu dem Brunnen ging. Als es eine Weile da gestanden hatte, erhob sich ein Windbrausen, und die Jungfrau stand vor ihm. Sie hatte statt eines menschlichen Kopfes drei Schweinsköpfe und trug eine Mulde voll Gold in den Händen. Als das Mädchen die Jungfrau in dieser Gestalt sah, fing es laut an zu schreien. Da that auch die Jungfrau einen lauten Schrei. Sogleich eilte der Vater des Kindes mit dem Pastor herbei um nachzusehn, ob ihm nichts Böses geschähe. Der Pfarrer fragte die Jungfrau, warum sie selbst so schreie. Diese antwortete mit kläglicher Stimme: »Dieses Kind hätte mich erlösen können, wenn es mir den mittelsten Schweinskopf geküßt hätte. Da es aber das nicht gethan hat, so muß ich wieder so lange wallen gehn, bis auf dem Baume Eicheln wachsen und aus den Eicheln Bäume werden. Wenn dann aus den Bäumen die erste Wiege gemacht wird, so kann das erste Kind, welches darin gewiegt ist, mich an dem Tage seiner Confirmation erlösen. Bis dahin aber kann mir nicht geholfen werden.« Damit verschwand die Jungfrau vor ihren Augen und sie gingen betrübt nach Hause.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 91-92.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.