129. Die zwölf weißen Jungfrauen auf dem Lichtenstein.

[99] Zur Zeit des Königreichs Westphalen war einmal ein Knochenhauer aus Alfeld nach dem Eichsfelde gegangen, um dort einige fette Schweine zu kaufen. Nach Beendigung seines Geschäftes trat er in Gesellschaft einiger Leute den Rückweg an. Dieser führte ihn in die Gegend von Osterode. An dem Lichtenstein, einem Buchenwalde bei Föhrste, wurden sie auf der sog. Burgwiese von der Nacht überrascht und entschlossen sich hier zu übernachten. Es war eine wunderschöne Sommernacht, die Sterne leuchteten freundlich und der Mond stand hoch am Himmel. Die Gefährten waren eingeschlafen; nur der Knochenhauer konnte nicht schlafen, und wenn er daran dachte, daß er sich in der Nähe einer Burg befände, wo früher Raubritter gehaust hatten, so ward ihm ganz unheimlich zu Muthe. Mitten in seinen Träumereien wurde er mit einem Male durch ein Gesicht erschreckt. Es war nämlich gerade die Johannisnacht, und in dieser pflegten alljährlich zwölf weiße Jungfrauen, die einst diese Burg bewohnt hatten, auf dieser Wiese ihren Reihentanz aufzuführen. Diese Jungfrauen erschienen nun auf der Wiese in einer alterthümlichen Tracht und fingen an zu tanzen. Kaum wagte er die Augen zu öffnen und nach den Jungfrauen zu sehen. Indessen war er diesen nicht unbemerkt geblieben. Sie hatten ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet und wollten ihn zum glücklichsten Menschen auf Erden machen. In dieser Absicht kam eine der zwölf Jungfrauen, welche die älteste zu sein schien, als es eben 12 Uhr geschlagen hatte, zu ihm und trat mit ihrem Fuße auf sein rechtes Knie. Der Schlächter fürchtete, daß dieß seine letzte Nacht sein werde, und sann über sein Schicksal nach. Bald kam die Jungfrau zum zweiten Male zu ihm, und dann zum dritten Male; jedes Mal trat sie auf sein rechtes Knie, ohne ein Wort dabei zu sprechen.[99] Unterdessen war es 1 Uhr geworden und die Geisterstunde damit zu Ende gegangen. Die weißen Jungfrauen begannen den Schlußtanz und waren dann mit einem Male an einer bestimmten Stelle verschwunden. Der Schlächter konnte die ganze Nacht nicht schlafen und setzte am anderen Morgen voll Betrübnis seine Reise fort. Er erzählte den seltsamen Vorfall mehreren Leuten, die ihm riethen sich in der Johannisnacht des nächsten Jahres wieder auf denselben Platz zu setzen; die Jungfrauen würden jeden Falls wieder erscheinen. Dann möge er sich ein Herz fassen und sie fragen, weshalb sie erschienen; vielleicht wollten sie verborgene Schätze anzeigen. Das Jahr verfloß und der Schlächter fand sich am Tage vor der Johannisnacht wieder auf der Burgwiese ein, wo er mit Sehnsucht die Geisterstunde erwartete. Kaum hatte die Glocke in dem benachbarten Dorfe Nienstedt die Mitternacht verkündigt, so erschienen auch wieder die zwölf Jungfrauen in dem früheren Anzuge und tanzten, wie im Jahre zuvor. Bald hatten sie auch den Schlächter wahrgenommen, und dieselbe, welche im vorigen Jahre zu ihm gekommen war, trat ihm wieder auf sein Knie. Obwohl dem Schlächter auch dieses Mal Furcht ergriff, so wurde sie doch durch die Hoffnung auf das große Glück, welches ihm bevorstand, zurückgedrängt, und er fing an zu sprechen. Kaum hatte er ein Wort gesprochen, so sagte die Jungfrau zu ihm, er möge ihr auf die Höhe des Berges folgen, dort wolle sie ihm sein Glück offenbaren. Als sie bei der Mauer, der einzigen, welche von der Burg Lichtenstein noch steht, angelangt waren, erzählte sie ihm, daß mitten unter dieser Mauer ein großer Schatz vergraben sei, den sie einst bei einem Raubkriege dorthin geschafft hätten, um ihn nach Beendigung desselben von dort wieder zu holen. Aber diese Hoffnung sei vereitelt; denn in der Johannisnacht wären sie ermordet und müsten nun alle Jahre in der Johannisnacht erscheinen und tanzen, bis sie einen Menschen gefunden hätten, der sie von dem Tanzen erlösen könnte. Diesen hätten sie nun in ihm gefunden, und er solle den Schatz dafür zur Belohnung haben; fortan würden sie nicht wieder erscheinen, weil sie nun zur ewigen Ruhe gelangen könnten. Er aber könne auch nur in der Johannisnacht den Schatz heben, und dürfe, um das auszuführen, noch sechs Personen mitbringen, nemlich drei unschuldige Jungfrauen, zwei keusche Junggesellen und einen Knaben zum Leuchten; jedoch dürfe während[100] der Arbeit niemand ein Wort sprechen, sonst würde der Schatz wieder verschwinden und für ihn auf ewig verloren sein. Als die Jungfrau dieß gesagt hatte, schlug sie an ihr Schlüsselbund, und alle zwölf waren sogleich in einer Oeffnung des Berges verschwunden. Froh kehrte der Schlächter nach Hause zurück, um im nächsten Jahre sein Werk zu beginnen. Bald hatte er auch die erforderlichen sechs Personen aufgefunden, und so erschien er mit diesen und mit den nöthigen Geräthschaften versehen in der Johannisnacht des nächsten Jahres bei der bezeichneten Mauer der Burg Lichtenstein. Mit dem Schlage Elf begannen sie ihre Arbeit; als es aber Eins schlug, hatten sie noch nichts gefunden, denn der Schatz stand sehr tief. Nach Verlauf eines Jahres kamen sie wieder, um ihr Werk zu vollenden; aber kaum hatten sie angefangen zu arbeiten, so erschienen auch allerlei Geister, die sie hindern und ihnen Schaden zufügen wollten. Auch dieses Mal schlug es zu früh Eins und der Schatz war noch nicht gefunden. Sie kehrten deshalb im folgenden Jahre zum dritten Male zu dieser Stelle zurück, um endlich den Schatz zu gewinnen. Sobald sie ihre Arbeit begannen, erschienen auch wieder die bösen Geister, um ihr Vorhaben zu vereiteln. Sie bauten an der Mauer einen Galgen auf und deuteten darauf hin, daß sie einen aus der Zahl der Schatzgräber daran aufhängen wollten. Plötzlich erblickten diese beim Schein ihrer Leuchte den Rand einer Tonne, und in demselben Augenblicke waren auch die Geister verschwunden. Sie brachten nun die Tonne höher und höher. Aber mit einem Male erschien eine Kutsche, mit vier feurigen Rossen ohne Köpfe bespannt, und fuhr an ihnen vorüber. Hinter dieser her kam ein Junge ohne Kopf, auf einer Mulde sitzend und schreiend: »ist die Kutsche fort, so will ich auch fort.« Dabei schien er jeden Augenblick in die Grube stürzen zu wollen und erweckte so in dem die Leuchte haltenden Jungen die gröste Besorgnis für sein Leben, so daß er vor Schreck ausrief: »Herr, hilf mir!« In demselben Augenblick war der Junge auf der Mulde verschwunden, aber zugleich auch die Tonne mit dem Schatze; denn es war gesprochen und nun konnte der Schatz nicht mehr gehoben werden. So musten die Schatzgräber traurig in ihre Heimat zurückkehren. Die Jungfrauen sind seit dieser Zeit nicht wieder erschienen; nach dem verborgenen Schatze zu graben hat aber niemand noch einmal[101] gewagt, aus Furcht, daß der Teufel dann wieder erscheinen möchte.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 99-102.
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Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.