130. Die Jungfrau von Radolphshausen.

[102] Der böse Graf Isang von Seeburg wollte die Tochter des Besitzers von Radolphshausen heirathen, die ihm aber wegen seiner Gottlosigkeit ihre Hand verweigerte. Um nun ihren Sohn zu rächen, verwünschte die Mutter des Grafen, Namens Hildegard, das Fräulein in das Ebergötzer Holz; dort sollte sie dreihundert und fünfundzwanzig Jahre wandern und nur dann erlöst werden können, wenn einer zu ihr die Worte spräche: es helfe dir Gott. Von dem Augenblicke an, wo die Verwünschung ausgesprochen war, befand sich das Fräulein in dem Ebergötzer Holze und ging daselbst um. Zu ihrer Nahrung hatte sie ein Körbchen mit Brot und eine Flasche Wein mitbekommen, die sich an jedem Tage von selbst erneuerten. Bei Tage lag sie auf einer Bank und hatte eine Nebelkappe auf dem Kopfe, so daß keiner sie sehen konnte. In jeder Nacht aber wanderte sie zwischen 11 und 1 Uhr als weiße Jungfrau durch den Wald und rief: hilf mir! Schon oft hatte man ihren Ruf dort gehört, aber niemand hatte je das Wort gesprochen, wodurch sie allein erlöst werden konnte. Zuletzt scheuten sich die Menschen bei Nacht durch diesen Wald zu gehn. Da begab es sich, daß ein Husar noch in der Nacht von Ebergötzen nach Holzerode reiten muste; man hatte ihn zwar gewarnt dieß zu thun, weil die weiße Jungfrau dort umginge, doch er erklärte, er fürchte sich nicht und ritt fort. Als er in den Wald gekommen war, – es war gerade zwischen 11 und 1 Uhr – erschien ihm wirklich die weiße Jungfrau und rief: »hilf mir, hilf mir!« Der Husar wandte sich darauf zu ihr und sprach: »wer kann dir denn helfen?« Sie antwortete: »niemand!« »So helfe dir Gott«, erwiederte jener. Kaum hatte er dieß Wort gesprochen, so saß auch schon die weiße Jungfrau hinter ihm auf dem Pferde. Sie sagte ihm, das sei das rechte Wort gewesen, wodurch sie hätte erlöst werden können, doch sei ihre Erlösung noch nicht vollständig; dreihundert Jahre habe sie schon gewandert, aber fünfundzwanzig Jahre müsse sie noch wandern. Dann fuhr sie[102] fort, in Waake auf dem Sike wohne im äußersten Hause ein schon ziemlich bejahrtes Ehepaar, welches noch keine Kinder habe; dieses werde wider alles Vermuthen noch einen Sohn bekommen. Wenn dieser fünfundzwanzig Jahr alt geworden sei und in der Kirche zu Waake seine erste Predigt gehalten habe, dann werde sie erst vollständig erlöst sein. Nachdem die weiße Jungfrau dieß gesprochen hatte, verschwand sie wieder. Der Husar aber dachte später bei sich, er wolle doch einmal nach Waake in das bezeichnete Haus gehn. Er ging also nach Waake in den Sik und in das letzte Haus hinein. Er traf daselbst auch wirklich ein gar nicht mehr junges und kinderloses Ehepaar. Als er bei diesem in der Stube saß, bemerkte er, wie die Thür sich öffnete und der Tod hereintrat, welcher dem Manne mit einem Rohrstocke, den er in der Hand hielt, auf den Rücken klopfte. Der Mann schauderte bei dieser Berührung, sah aber eben so wenig etwas wie seine Frau, da der Tod nur dem Husaren sichtbar war. Noch in demselben Jahre ward dem Ehepaare ein Sohn geboren; der Mann aber, dem der Tod auf den Rücken geklopft hatte, starb nach anderthalb Jahren. Der Sohn wuchs heran und studirte Theologie; als er nun fünfundzwanzig Jahr alt geworden war, hielt er in Waake seine erste Predigt, und damit war die Jungfrau völlig erlöst. Diese sah aber alt, gelb und ganz zusammengeschrumpft aus, und kein Mensch kannte sie. Sie ging nach Radolphshausen, und erzählte hier den Leuten ihr ganzes Schicksal; trotzdem, daß keiner sie kannte, nahm man sie doch freundlich auf und behielt sie bis zu ihrem Tode. So lebte sie in Radolphshausen noch volle drei Jahre, dann starb sie. Der Leichenschmaus bei ihrer Beerdigung war wahrhaft großartig, und drei Tage und drei Nächte ward ununterbrochen gegessen und getrunken.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 102-103.
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Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.