144. Die gestohlenen Laken.

[120] Ein Schlächter aus Bodensee ging im Mittage nach Bilshausen, um dort Vieh zu kaufen. Als er den Weg mehr als zur Hälfte zurückgelegt hatte, kam er an eine Hecke. Auf dieser sah er drei feine weiße Laken zum Trocknen ausgebreitet. Er konnte nicht begreifen, wie diese dahin gekommen wären oder wem sie gehören möchten, und dachte bei sich, er wolle eins davon nehmen. Er nahm also eins, dann auch das zweite, endlich sogar das dritte; dann setzte er seinen Weg weiter fort. Als er nach Bilshausen gekommen war, ging er in das erste Haus hinein, und legte daselbst seine drei Laken nieder, um erst seine Geschäfte im Dorfe abzumachen. Der Hauseigenthümer, dem er erzählt hatte, wie er in den Besitz der Laken gekommen war, sagte zu ihm, er habe daran nicht gut gethan; man könne nicht wissen, wem dieselben gehörten, und es könne dieß für ihn recht schlimme Folgen haben. Doch der Schlächter nahm, als er nach Hause zurückkehrte, die drei Laken mit. Als er nun in der nächsten[120] Nacht ruhig in seinem Bette lag, hörte er zwischen 11 und 12 Uhr, wie an sein Fenster geklopft wurde. Er dachte, junge Burschen thäten dieß und ließ sich nicht stören; es klopfte zum zweiten Male, doch auch jetzt blieb er ruhig liegen. Als aber zum dritten Male lauter und stärker geklopft wurde, stand er auf und ging ans Fenster, um zu sehen, wer da wäre. Vor dem Fenster standen drei Zwerge. Diese sprachen zu ihm, er habe ihre Laken gestohlen; in der nächsten Nacht, oder in der zweiten, spätestens aber in der dritten solle er sie wieder zu der Hecke bringen; wenn er das nicht thäte, so würde es ihm das Leben kosten. Damit gingen sie fort. Am andern Tage ging der Schlächter zum Pfarrer und erzählte ihm alles. Dieser sagte, er hätte die Laken allerdings nicht nehmen dürfen; nun bleibe nichts weiter übrig, als daß er sie wieder dahin trage, woher er sie genommen habe; jedoch solle er geweihte Sachen mitnehmen und es so einrichten, daß er kurz vor zwölf dahin käme, so daß er, wenn es zwölf schlüge, mit dem Aufhängen der Laken gerade fertig wäre. So oft er eins derselben auf der Hecke aufgehängt habe, solle er gleich mit Kreide einen Kreis um sich ziehen, damit ihm die Zwerge nicht schaden könnten; sobald er aber das dritte aufgehängt habe, solle er sogleich wieder einen Kreis um sich ziehen, und darin stehn bleiben, bis es Eins geschlagen habe, sonst hätten die Zwerge noch Macht über ihn. Der Schlächter ging in der dritten Nacht hin und that genau so, wie ihm der Pfarrer gerathen hatte. Kaum hatte er das dritte aufgehängt, als die Glocke zwölf schlug. Jetzt erblickte er auch die drei Zwerge hinter der Hecke; er selbst aber blieb ruhig in seinem Kreise noch eine volle Stunde stehn, bis die Glocke eins geschlagen hatte. Da sprachen die Zwerge, es sei sein Glück, daß er bis Eins in dem Kreise stehen geblieben wäre, sonst hätten sie doch noch Macht über ihn gehabt und es würde ihm das Leben gekostet haben.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 120-121.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.