190. Augen verblenden.

[171] Vor uralten Zeiten kam einmal ein Gaukler nach Hildesheim und ließ die ganze Stadt auf dem Neustädter Markt zusammentrompeten, wo er den Leuten ein großes Kunststück zeigen wollte. Als nun eine große Menge zusammen war, trat der Gaukler in einen Kreis mitten auf den Markt und hatte einen schwarzen Hahn unter dem Arme. Diesen setzte er mitten in den Kreis und band ihm einen großen Wiesebaum, den zwei Männer kaum tragen konnten, an das Bein. Der Hahn ging mit dem Wiesebaum vorwärts, als wenn es nichts wäre, und fing sogar an zu tanzen, so daß die Leute vor Verwunderung nicht wusten, was sie sagen sollten. – Da kam eine Magd vom Felde, welche Klee geholt hatte, worunter ein vierblätteriges Kleeblatt war. Als das Mädchen nun die vielen Leute sah, die alle vor Verwunderung laut aufschrieen, rief es: »Was giebt's denn hier? Ich sehe ja nichts!« »Ist Sie denn blind?« riefen die Leute, »sieht Sie denn nicht, wie der Hahn dort mit dem Wiesebaum am Beine auf dem Markte spazieren geht?« Da lachte das Mädchen und sagte: »Was seid Ihr doch für dumme Leute, ich sehe wohl dort einen schwarzen Hahn mit einem langen Strohhalm am Beine, aber keinen Wiesebaum.« Da merkte der Gaukler, daß ihm die Magd in die Karten sah, konnte ihr aber wegen des vierblätterigen Kleeblatts nichts anhaben. Diese ging über die thörichten Leute lachend davon. Als sie nun zu Hause ihren Tragkorb abgesetzt hatte und noch immer so viele Menschen nach dem Neustädter-Markte strömen sah, beschloß sie noch einmal hinzugehen und die dummen Leute auszulachen. Kaum war sie aber wieder auf den Markt gekommen, als sie auf einmal ihre Röcke in die Höhe nahm und schrie: »Hülfe! Hülfe! das Wasser geht mir schon bis an den Hals, ich ertrinke!« – Nun war die Reihe des Lachens an den versammelten Leuten; denn die sahen kein Wasser und standen alle im Trockenen, so wie auch sie im Trockenen stand. Es hatte ihr nemlich der Gaukler, der die »Augen verblenden«[171] konnte, diesen Streich gespielt; denn da sie bei ihrer Rückkunft das vierblätterige Kleeblatt nicht mehr bei sich hatte, konnte er ihr etwas anhaben.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 171-172.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.