206. Das erlöste Reh.

[189] Ein Jägerbursche aus Mackensen war nach dem Zwickenbusche bei Sievershausen auf die Jagd gegangen. Hier erblickte er ein Reh und schoß darnach; dieses machte einen Sprung in die Luft und fraß dann ruhig weiter. Er ladet von neuem und schießt, glaubt auch jetzt getroffen zu haben, aber das Reh[189] springt in die Höhe und fängt dann wieder an zu fressen. Dasselbe geschieht, als er zum dritten Male schießt. Weil er sonst ein guter Schütze ist, so geräth er jetzt in Furcht und geht nach Hause. Hier erzählte er den Vorfall einem anderen Jägerburschen. Dieser sagte, ihm wäre schon dasselbe begegnet und es würde dieses Reh wohl ein verwandelter Mensch sein; er möchte deshalb das nächste Mal mit der Kugel drei Brotkrumen einladen, dann werde der Schuß jedenfalls tödten. Bald nachher steht wieder dasselbe Reh vor ihm; erst schießt er darnach wie gewöhnlich, aber das Reh springt in die Höhe und fängt dann wieder an zu fressen, als wenn nichts vorgefallen wäre. Darauf ladet er so, wie ihm gerathen ist und schießt zum zweiten Male; als er den Schuß gethan hat, stößt das Thier einen Schrei aus wie ein Mensch und spricht: »nun bin ich erlöst.«

Nach einer anderen Erzählung stand, nachdem der Jäger den zweiten Schuß gethan hatte, anstatt des Rehes einer seiner Cameraden da, von dem man glaubte, daß er sich in das Thier verwandelt habe.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 189-190.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.