219. Der Amtmann von Erichsburg.

[201] Ein armer Hirt diente bei dem Amtmann von Erichsburg und hatte ihm schon lange seine Kühe treu gehütet. Einst aber geschah es dennoch, daß er eine der Kühe verlor, indem diese über einen Steinhaufen gesprungen und so umgekommen war. Als er am Abend nach Hause kam und der Amtmann den Verlust der Kuh erfuhr, ward dieser so wüthend, daß er ihm, so viel er auch seine Unschuld betheuerte und um Erbarmen flehte, seine einzige Kuh aus dem Stalle holen ließ und als Ersatz für die verloren gegangene hinnahm. Der arme Hirt verwünschte ihn deshalb, daß er bis ans Ende der Welt herumreiten und die Kuh suchen müsse. Als nun des Amtmanns letzte Stunde gekommen war, konnte er nicht eher sterben, als bis man ihn auf eine Kuhhaut gelegt hatte und auf dieser hinausschleifte. Nach seinem Tode reitet er nun Nachts auf einem weißen Schimmel auf dem Dreische bei Denkiehausen herum. Als eines Tages zwei Männer, welche als Tagelöhner gearbeitet hatten, spät am Abend mit einander nach Hause zurückgingen, sprach der eine, welcher aus Denkiehausen war, zu dem andern, wenn sie an den Dreisch kämen und er wolle den Amtmann sehen, so solle er auf seinen linken Fuß treten und ihm über die rechte Schulter sehen, – »denn nicht alle Menschen könnten so etwas sehen«. – Auf dem Dreisch that nun auch der andere, wie ihm der Denkiehäuser gesagt hatte. Da sah er den Amtmann auf seinem weißen Schimmel in vollem Jagen daher und auf sich zu kommen. Als der Amtmann dicht vor ihnen war, sagte der Denkiehäuser, der ein sehr beherzter Mann war und sich selbst vor dem Teufel nicht gefürchtet hätte, brr! und der Schimmel stand sogleich still. Dann gingen die beiden noch mit einander fort, bis ihre Wege sich trennten, da wandte sich der eine nach Denkiehausen, der andere lief aus Furcht vor dem Amtmann spornstreichs seinem Dorfe zu.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 201.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.