243. Die Geisterkirche.

[236] In einem Dorfe des Nieder-Eichsfeldes glaubte eine Frau am frühen Morgen das Läuten zur Frühmesse zu hören. Sie kleidete sich rasch an und ging in die Kirche. Hier nahm sie ihren gewöhnlichen Platz ein, sah aber, als der vor dem Altare stehende Geistliche sich umdrehte und der Gemeinde das Gesicht zuwandte, daß sie nicht den jetzigen Geistlichen des Orts, sondern einen vor vielen Jahren verstorbenen vor sich hatte. Nun schaute sie auch zur Seite und sah zu ihrem Schrecken ihre längst verstorbene Nachbarin neben sich. Diese berührte sie mit dem Ellenbogen und gab ihr einen Wink die Kirche zu verlassen. Sie beeilte sich nun das zu thun, ward aber von Geistern ergriffen und ihr das weiße Laken, welches sie als Mantel umgethan hatte, vom Leibe gerissen. Doch gelang ihr glücklich wieder aus der Kirche herauszukommen, das Laken aber war in lauter thalergroße Fetzen zerrissen.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 236.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.