26. Die Hildesheimer Jungfer.

[18] Auf den Stadtwappen und den hildesheimischen Fahnen, steht die hildesheimische Jungfer mit einem Kranze in der Hand.[18] So lange die Feinde der festen Stadt sich vergeblich an den starken Wällen und Mauern die Zähne ausbissen, trug die Jungfer ihren Kranz stolz auf dem Kopfe; als aber die Stadt einst in Feindes Hand fiel, da fiel auch der Jungfer der Kranz von dem Kopfe in die Hand. – Die hildesheimische Jungfer hat aber wirklich einmal vor ur-uralten Zeiten gelebt. Sie war ein sehr reiches und schönes Edelfräulein, welches die Fürsten und Grafen in der Umgegend gar zu gern zur Frau gehabt hätten. Die schöne Hildesheimerin wurde aber nicht durch die Pracht und den Reichthum der hohen Herrschaften gelockt, sondern verlobte sich heimlich mit einem schönen und braven jungen Ritter, der bei einem der Fürsten, welche die Jungfer gern haben wollten, in Diensten stand. Da hätte es nun dem Ritter schlimm gehn können, wenn der Fürst gemerkt hätte, daß sein Dienstmann der Jungfer lieber war, als er. Darum mußten die Liebenden ihre Zusammenkünfte ganz heimlich in dem großen, dunkeln Hildesheimer Walde halten, der damals noch bis dicht an die Stadt gieng. Eines Tages ging das Fräulein wieder in den Wald und suchte die große Linde auf, unter welcher ihr Bräutigam tagtäglich saß und auf sie wartete. Doch der Mensch denkt und Gott lenkt! Sie war noch nicht bei dem Baume angekommen, als es pech-rabenschwarz heraufzog und ein Sturmwetter los brach als ob der böse Feind sein Wesen triebe. Als nun die halb zu Tode geängstigte und durchnäßte Jungfer endlich bei dem Baume ankam, da zeigte ihr ein heller Blitz ihren Ritter, wie er kalt und leblos auf dem grünen, feuchten Moose lag, – ein Blitz hatte ihn getroffen. – Nun stelle sich einer den Schmerz der Jungfer vor! Sie weinte und schrie, zerraufte ihr schönes Haar und lief wie unsinnig immer fort in den düstern Wald hinein. Einen ganzen Tag mochte sie so umhergelaufen sein, als sie ermattet unter einem wilden Rosenbusche niedersank und einschlief. Da erschien ihr im Busche die heilige Mutter Gottes, die Rosen rings umher wurden eben so viele kleine Engelsköpfchen und sahen aus ihren hellen Augen so lieblich und tröstlich auf die Schmerzens-Jungfrau, daß es ihr tief in das wunde Herz drang und sie himmlischen Trostes voll erwachte. Gestärkt suchte sie nun den Rückweg nach der Vaterstadt; aber da war kein Weg zu sehen, keine menschliche Stimme zu hören, nur das Geheul der Bären und Wölfe antwortete auf ihre Klagen. »Verlaß mich nicht heilige Mutter Gottes[19] in dieser Noth,« rief die todmüde Jungfer, »ich will auch all' mein Gut und Leben Gott geloben!« Kaum hatte sie dieses Gelübde gethan, als sie in weiter Ferne eine Glocke hörte, die rief ihr zu: »Kehre wieder! Kehre wieder! Kehre wieder!« Da lief die Jungfer Gott dankend den heiligen Tönen entgegen und je weiter sie vorwärts gieng, desto deutlicher hörte sie die Glocke, bis sie aus dem dunkeln Walde kam und die schönen Felder und Gärten der Stadt zu ihren Füßen lagen. Da war es gerade acht Uhr Abends; doch das Fräulein mochte mehrere Tage im Walde umhergelaufen sein.

Die so wunderbar gerettete Jungfer hielt nun pünktlich, was sie gelobt hatte. Sie beschenkte Kirchen und Klöster reichlich; vor Allem aber bedachte sie ihre liebe Vaterstadt und schenkte den Bürgern den ganzen Hildesheimer Wald, der ihnen, obwohl durch die viele Nutzung jetzt auf einige waldige Hügel zusammengeschrumpft, noch heute unentgeltlich Holz für den Winter liefert. Der Festungsthurm, auf dem die rettende Abendglocke hing, hieß seitdem und bis auf den heutigen Tag der »Kehre wieder.« Die Glocke selbst aber ward geweiht und in dem St. Lamberti Kirchthurm aufgehängt. Damit nun die Glocke künftig auch andern verirrten Wandrern recht von Nutzen sein könnte, so machte es die verständige Jungfer fest, daß sie in den kurzen Tagen von Michaelis bis Ostern eine ganze Stunde und zwar Abends von 8 bis 9 geläutet werden sollte. Auch machte sie ein Vermächtniß, aus welchem dem Läuter jährlich ein Schuh und ein Thaler bezahlt wird; und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag. – Ich möchte auch dem Magistrat nicht rathen, daß er etwas daran änderte; wir haben es erlebt, wie die Jungfer auf ihr Recht hält. Als vor nun bald 50 Jahren die fremden Völker in's Stift kamen, die Klöster aufhoben und nichts achteten, wenn es auch viele hundert Jahre bestanden hatte, da befahl der König Hieronymus, daß die »Jungfern-Glocke« nicht mehr geläutet werden sollte, und sie ward mehrere Jahre nicht geläutet. Was aber der arme Läuter und der Thürmer nun zu leiden hatten, kümmerte die Herren wenig. Seitdem man sich nemlich so gröblich gegen die Vermächtnisse der guten Jungfer versündigt hatte, dachte sie, ich will Euch doch einmal zeigen, was es heißt an Testamenten herumzuklügeln. – Wer damals zwischen 8 und 9 nichts bei der Lamberti-Kirche zu thun[20] hatte, der blieb gern weg, denn die erzürnte Jungfer trieb dann einen grausigen Spuk. Wenn der noch nicht lange verstorbene Läuter »Brandhorst« auf den Thurm ging um die Uhr aufzuziehen, so bekam er links und rechts Ohrfeigen und wußte doch nicht, woher sie kamen. Das konnte der Mann nicht länger mehr aushalten und klagte es dem Kirchenvorsteher Wehrhahn, der noch so ein echter, rechter Hildesheimer war, welcher viel auf die alten Rechte der Stadt hielt. Wehrhahn setzte nun sofort eine Schrift auf und bewirkte es beim Magistrate, daß das Vermächtniß der Hildesheimischen Jungfer wieder in Ehren gehalten wurde. Die Glocke wurde wieder geläutet, und sieh da, auf dem Thurm ward's ruhig, Brandhorst bekam keine Ohrfeigen mehr und strich jährlich froh seinen Thaler ein: den einen Schuh aber ließ er immer ein Jahr stehen, dann hatte er zwei.

Auch noch eine andere ganz silberne Glocke soll die Jungfer zum Andenken an ihre Rettung haben gießen lassen, die hing in der Michaeliskirche. Als nun 1803 der Preuße in's Stift kam, hat er gedacht, die Glocke kannst du gebrauchen, ließ sie herunternehmen und »Stiefelknechte«1 daraus schlagen. Aber die Stiefelknechte haben den Preußen kein Glück gebracht, sie gingen alle in der Schlacht bei Jena verloren.

So viel ist gewis, die Jungfer hat ihre Vaterstadt noch immer recht lieb, und wenn einmal, was Gott verhüte, der Feind kommt und die Stadt beschießt, so stellt sich die Jungfer auf dem »Kehrwieder-Wall« und fängt die Kugeln in ihrer Schürze auf. So hat sie es im dreißigjährigen Kriege gemacht, sonst wäre weder Stumpf noch Stiel von der Stadt geblieben. –

Fußnoten

1 So nannte das Volk eine damals gängige kleine preußische Silbermünze.


Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 18-21.
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Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.