52. Das Fährhaus bei Lippoldsberge.

[35] Der Landgraf von Hessen war einst auf dem Landtage [Reichstage]. Hier gerieth er, der ein reifer Mann war, mit dem Kaiser, der noch sehr jung war, in einen Streit und ward so zornig, daß er diesem eine Ohrfeige gab. Dafür ließ ihn der Kaiser gefangen nehmen und zu Wien in einen Thurm setzen. Schon hatte er zwei Jahre in dem festen Thurme gesessen, da erschien vor ihm im Thurme ein Mann – es war aber der Böse – und fragte ihn, ob er denn Lust habe ewig in dem Thurme zu sitzen; wenn er ihm verspreche in seinem Lande die Hexen nicht mehr zu verfolgen und zu verbrennen, so wolle er ihn in sein Land bringen, er brauche nur zu bestimmen, wohin er wolle. Der Landgraf nahm den Vorschlag an, versprach die Hexen in seinem Lande nicht mehr zu verbrennen und forderte, der Böse solle ihn nach dem Fährhause bei Lippoldsberge bringen. Darauf flog der Teufel mit dem Landgrafen erst nach Cassel; der Landgraf erinnerte ihn aber an sein Versprechen ihn nach dem Fährhause zu bringen, und nun bringt der Teufel den Landgrafen wirklich hin zum Fährhause bei Lippoldsberge an der Weser. Der Fährmann mit Namen Westphal nimmt ihn, der von dem langen Aufenthalte rauh und unordentlich (prummelig) aussah, in sein Haus auf und gibt ihm, da sie gerade essen, auch Speise, erst braunen Kohl, dann auch noch ein tüchtiges Stück Wurst, verweigert es aber den Fremden, so sehr dieser auch darum bittet, über Nacht im Hause zu behalten, da[35] dieß von dem Landgrafen verboten sei. Doch der Sohn des Fährmannes fühlt Mitleid, macht sich heimlich an den Fremden und sagt diesem, er möge nur mit ihm gehn, er werde ihn heimlich auf den Heuboden führen, wo er schlafen könne. Nachts um zwei Uhr wolle er ihn wecken; sein Vater würde nichts merken, da er mit den Knechten erst um 4 Uhr aufstände. So thut auch der Fremde und geht fort, nachdem er von dem Jungen noch ein gutes Frühstück mit auf den Weg erhalten hatte. Als die Knechte am anderen Morgen aufstehen, finden sie an die Thür geschrieben: in dieser Nacht hat hier der Landgraf von Hessen geschlafen. Der Sohn sagt nun zum Vater, es würde ihnen gewis übel ergehen, da er den Landgrafen habe wegjagen wollen. Nach drei Tagen werden Vater und Sohn nach Cassel zum Landgrafen gerufen. Dieser tritt ihnen zuerst in demselben Anzuge entgegen, in dem er im Fährhause erschienen war und spricht: daß der Alte ihn nicht habe im Hause behalten wollen, sei ganz recht gewesen, weil es ja verboten gewesen sei; dafür aber, daß er ihm zu essen gegeben habe, solle er und seine Nachkommen die Fähre ohne Pacht haben, so lange der Name Westphal bestehe. So hat nämlich der Fährmann geheißen.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 35-36.
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Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.