65. Stein wird weich.

[43] Zwei Könige führen mit einander Krieg, der eine ist dem andern weit überlegen an Macht, da sein Land viel größer und sein »Volk« (d.h. Heer) viel zahlreicher ist. Ermüdet vom Kampfe und voll der grösten Besorgnis wegen des Ausgangs der am nächsten Tage bevorstehenden neuen Schlacht, legt sich der schwächere König Abends auf sein Lager, welches auf dem Boden für ihn bereitet ist, und gibt sich ganz seinen trüben Gedanken hin. Er betet zu Gott und bittet diesen ihm den Sieg zu verleihen. Endlich schläft er ein. Da träumt ihm, eben so gewis, wie sein Pferd in den Stein hinein träte, als wäre es Butter, und sein Schwert einschneiden würde in den Felsen, eben so gewis würde er mit seinem kleinen Heere über des Feindes Uebermacht siegen. Sein kleines Hündchen, ein Spitz, der neben ihm liegt, weckt ihn am frühen Morgen, und mit frohem Muthe besteigt er sein Pferd. Wie er dahin sprengt, kommt er auf eine Felsplatte, und siehe! des Pferdes vier Hufe drücken sich tief in den Stein ein, so daß die Abdrücke der Hufe noch jetzt deutlich zu sehen sind. Darauf nimmt er auch sein Schwert und schlägt damit auf den Felsen, und auch das Schwert dringt in den Felsen ein und läßt eine tiefe Kerbe darin zurück. Als es nun zur Schlacht kam, gewann er den vollständigsten Sieg.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 43-44.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.