66. Der Räuber bei Oldershausen.

[44] In der Nähe von Oldershausen wohnte ein Räuber in einem Felsen, der einen verborgenen Eingang hatte. Von diesem Felsen lief ein Draht quer über den Weg hin zu einer Quelle, um die er so gelegt war, daß ein Wanderer, der aus der Quelle trinken wollte, sich jeden Falls darauf setzen muste. Wurde auf diese Weise der Draht berührt, so setzte er eine Glocke in Bewegung, die dem Räuber von der Nähe des Reisenden Kunde gab. So oft sich nun die Glocke bewegte, kam der Räuber aus dem Felsen hervor und ermordete den Reisenden, wenn er Geld und Gut bei sich hatte; hatte dieser nichts bei sich, so ließ er ihm[44] zwar das Leben, nöthigte ihm aber einen Eid ab, daß er ihn nicht verrathen wollte. Schon lange hatte der Räuber sein Unwesen getrieben und schon zehn Menschen gemordet, als ihm einst träumte, der Böse stehe vor ihm und kündige ihm an, noch zehn Jahre würde er leben, dann aber werde er kommen und ihn für seine vielen Verbrechen mit sich nehmen. In jeder folgenden Nacht erschien ihm der Böse wieder, hielt ihm alle seine Schandthaten vor und rechnete ihm dann vor, wie viele Tage und Stunden er noch zu leben habe; er schilderte zugleich die Marter, die er zur Vergeltung würde auszustehen haben. Als nun die zehn Jahre um waren, zerbarst der Felsen in große Stücke, die weit umher flogen; der Räuber aber ward von dem Bösen entführt und sitzt in der Hölle bei ungeheueren Schätzen auf einem glühenden Kohlenbecken. Sobald er etwas berührt, wird es zu Feuer und brennt. In jedem zehnten Jahre darf der Räuber in der Nacht, wo ihn der Böse entführt hat, um die Zeit der Geisterstunde einmal zu dem Felsen zurückkehren und muß dann dem ersten Reisenden, der da vorbei kommt, jedes Mal den zehnten Theil seiner geraubten Schätze geben; die Menge der Schätze bleibt sich aber darum doch gleich, weil das davon genommene sich von selbst wieder ersetzt. Ein unschuldiger Jüngling, der in dieser Nacht vorbei kommt, kann ihm, wenn er sich freiwillig dazu versteht, drei der Leidensjahre abnehmen, die jener in der Hölle zubringen muß. Während der drei Jahre, welche der Jüngling in der Hölle verlebt, darf er sich weder waschen noch kämmen, sich den Bart nicht abnehmen und die Nägel nicht schneiden, dazu kein Vaterunser beten. Dann erhält er nach Ablauf dieser Zeit ungeheuere Schätze, die aber nicht die geraubten sind und die er in der letzten Nacht noch »lösen« muß. Wohl aber darf er in den drei Jahren arme Leute für sich ein Vaterunser beten lassen; doch muß er dies gleichsam erkaufen, indem er den Armen Schätze giebt, über die er in drei Nächten des Jahres frei verfügen kann. Betet er selbst in der Zeit nur ein einziges Vaterunser, so muß er die ganze dem Räuber bestimmte Zeit von zehn Jahren in der Hölle abbüßen, der Räuber aber ist erlöst und braucht nicht mehr auf die Erde zurückzukehren. Hält er gar die drei Jahre nicht aus, so ist er selbst dem Teufel verfallen, und des Räubers Leidenszeit beginnt wieder von vorn.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 44-45.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.