1.

[52] An der Stelle des jetzigen Erdpfuhls (Erpauls) bei Lüthorst hat früher ein gräfliches Schloß gestanden. Der Graf hatte sich[52] in ein schönes Mädchen aus einem benachbarten Dorfe verliebt und sie verführt, indem er ihr versprochen hatte sie zu heirathen. Später verlobte er sich mit einer Standesgenossin und wollte das Mädchen mit Geld abfinden, was diese jedoch nicht annahm. Als nun am Hochzeitstag der Brautzug in die Kirche gekommen war, und das Brautpaar vor den Altar treten wollte, da sahen sie die frühere Geliebte des Grafen quer vor dem Altare stehen. Der Graf war Anfangs erschrocken, faßte sich aber bald, erklärte das Mädchen für wahnsinnig und befahl sie aus der Kirche heraus zu schleppen. Das Mädchen, welches bis dahin bleich, unbeweglich und sprachlos dagestanden hatte, schien jetzt mit einem Male wie aus einem Traume zu erwachen und sagte: »wenn auch der irdische Richter dich nicht bestraft, so wird doch der himmlische Vater über dich Recht sprechen.« Mit diesen Worten stürzte sie todt nieder. Gottes Gericht aber trat auf der Stelle ein. Die Erde erdröhnte und spaltete sich zu einem weiten und tiefen Schlunde, worin das Schloß mit allen seinen Bewohnern versank. – Der Schlund ist der Erdpfuhl; er gilt für unergründlich, und das Volk trägt Scheu sich ihm zu nähern.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 52-53.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.