Fünfter Aufzug


[129] Das Zimmer des vierten Aufzuges wird aufgeräumt. Die Fauteuils stehen in Unordnung an den Seiten, der Teppich ist aufgeschlagen, und Eimer, Besen, Schrubber, Schaufeln und Bürsten liegen überall herum. Weibliche und männliche Domestiken bürsten, fegen und putzen mit Eifer.

Von rechts kommen Fürst Waldimir und Kneetschke in grösster Wut auf die blaue Bühne.


WLADIMIR. Das ist ja unerhört!

KNEETSCHKE. Die Ehre der Familie Patzig geht mir über Alles.

WLADIMIR. Kneetschke, das ist eine Frechheit!

KNEETSCHKE. Frechheit und Ehre sind zwei ganz verschiedene Begriffe.

WLADIMIR. Kneetschke, Sie sollten Rebellengeneral werden.[129]

KNEETSCHKE. Das wird nie geschehen!

WLADIMIR. Es wäre aber im Interesse aller Familien, die mit den Patzigs verwandt sind, sehr erwünscht.

KNEETSCHKE. Warum?

WLADIMIR. Weils immer gut ist, wenn der grösste Esel – unsere Feinde – anführt.

KNEETSCHKE. Mich werden Sie niemals anführen, Durchlaucht! Ich bin ein ehrenfester Mann.

WLADIMIR. Sie sind der grösste Esel von ganz Europa.

KNEETSCHKE. Immer noch besser als ein Falschmünzer – und auch besser als diejenigen, die anonyme Karten schreiben.

WLADIMIR. Kneetschke, ich erwürge Dich, Du Hund.

KATHI von links. Wladimir! Wladimir! Lade blos keinen Mord auf Dein Gewissen.

WLADIMIR. Kathi!


Dreht sich rasch um und küsst sie.


KATHI. Uebrigens, Kneetschke! Ich will Ihnen was sagen: nicht Wladimir hat die Karte mit dem Esel geschrieben – ich wars.

KNEETSCHKE. Ha! Das ist was Andres! Also eine echte Patzig hat sich herabgelassen, einem Kammerdiener – eine – offene – Postkarte – zu – schreiben.

KATHI. Jawollja! Und jetzt denkt der Kammerdiener, eine echte Patzig wird sich seinetwegen das Leben nehmen. Zum Schiessen!

WLADIMIR. Zum Totschiessen!


Beide lachen. Kneetschke zieht sein Taschentuch.


KNEETSCHKE. O Schmach! O Schande!


Die reinmachenden Domestiken verschwinden nach und nach – nehmen aber nur Schrubber und Besen mit. Der Papa und die Mama kommen.


PAPA. Welch ein Lärm ist das hier wieder!

MAMA. Dieser Kneetschke![130]

KATHI. Mama, ich soll mich durchaus totschiessen!

MAMA. Aber Kind, benimm Dich doch anständig.

PAPA. Kneetschke, ich muss Ihnen jetzt in allem Ernste verbieten, diese Tausendmarkscheinaffäre auch noch fernerhin aufzubauschen.

WLADIMIR. Die Geschichte ist ja einfach lächerlich.

PAPA. Selbstverständlich! Die Banknoten sind ja nicht für den öffentlichen Verkehr bestimmt. Ich habe mit meinem Rechtsanwalt darüber gesprochen – und der Mann bekam einen Lachkrampf.

KATHI. Der Aermste!

MAMA. Ist er schon ausser Gefahr?

PAPA. Er liegt noch zu Bett.

WLADIMIR. Kneetschke sollte sich auch zu Bett legen – das wäre das Vernünftigste.

KNEETSCHKE. Sie haben beinahe Recht, Durchlaucht! Aber ich brauche ein sehr grosses Bett.

WLADIMIR. Was wollen Sie damit sagen?

KNEETSCHKE. Die grosse Erde, auf der ich so lange lebte – die soll mein Bett sein.

MAMA. Nehm Er sich die Sache doch nicht so zu Herzen.

KATHI. Die Geschichte ist ja lächerlich.

KNEETSCHKE. Wohl mag heutzutage die Ehrlichkeit eine lächerliche Sache geworden sein. Aber ich kann da nicht mehr mit. Der Betrug der Familie Patzig will doch – eine Sühne haben.

PAPA. Donnerwetter, Kneetschke! Jetzt mach Er, dass Er fortkommt!

KNEETSCHKE. Ja, das will ich! Und vielleicht ist mein Fortgang eine Sühne für die Schandtaten der Familie Patzig.

WLADIMIR. Verfluchter Hund!


Will den Kneetschke schlagen, Kathi fällt ihm aber in den Arm.


KNEETSCHKE. Europa, lebe wohl! Er stösst sich einen langen Dolch ins Herz und fällt zu Boden.


[131] Die Mama und Kathi fallen in Ohnmacht, die beiden Männer wissen nicht, um wen sie sich zuerst bemühen sollen. Während dann Wladimir dem Kneetschke den Dolch aus der Wunde zieht, erscheint links der Geist des Grossvaters Patzig mit einem Lorbeerkranz in der Hand, legt diesen auf das Haupt des Sterbenden und geht langsam rechts ab, während Wladimir und der Papa starr vor Entsetzen mit offenem Munde dem Gespenste nachstarren und die Frauen langsam aus ihrer

Ohnmacht erwachen, ohne die Szene zu begreifen.

Weibliche Domestiken ziehen vorne mit Hilfe von Schrubbern und Besen die Gardine zu, vor der langsam ein Tausendmarkschein aus der Höhe herunterfällt.

Ende der Kammerdiener-Tragödie:

Herr Kammerdiener Kneetschke.


Quelle:
Paul Scheerbart: Gesammelte Arbeiten für das Theater. Band 1, München 1977, S. 129-132.
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