Der Wasgenstein

[102] Interea vir magnanimus de flumine pergens

Venerat in saltum, iam tum Vosagum vocitatum.

Nam nemus est ingens, spatiosum, lustra ferarum

Plurima habens, suetum canibus resonare tubisque.

Sunt in secessu bini montesque propinqui

Inter quos, licet angustum, specus exstat amoenum

Non tellure cava factum sed vertice rupum;

Apta quidem statio latronibus illa cruentis.

Angulus hic virides ac vescas gesserat herbas.

Hunc mox ut vidit juvenis »huc« inquit »eamus,

His iuvat in castris fessum componere corpus«.

»Waltharius« 489 u. ff.


Wer kennt im deutschen Grenzbezirke

Des Weidmanns Lust, den Wasgauwald,

Der einst den Völkern im Gebirge

Gleich einer Gottheit heilig galt?[102]

Hei Jagdhornruf und Hundebellen!

Wie zog's mit Hall und Schall zur Pirsch,

Als noch an kressereichen Quellen

Sich stolz geäst der Edelhirsch.


Wo sind die Jäger, die einst lachten,

Wenn jener stritt im Brautturnier,

Daß die Gehörne weithin krachten?

... Still geht der Lenz heut durchs Revier ...

Ein Pfad biegt von des Maimont Gipfeln

In ein elsassisch Waldtal ein,

Und braunrot starrt aus grünen Wipfeln

Der Doppelklotz des Wasgenstein.


Wie ein vermoostes Waldgeheimnis

Ruht das geborstne Riesenhaus

In Schutt und schweigender Verträumnis

Von dunkler Vorzeit Rätseln aus.

Wer schuf den Plan zu solchem Werke?

Wer drang zuerst am Fels empor?

... Erdmänner höhlten ihn und Zwerge,

Giganten türmten Turm und Tor.


An diesen senkrecht steilen Rändern

Braucht's sichern Tritt und mannlich Herz.

Weh allen Krinolingewändern!...

Der Blick verstürzt sich abgrundwärts.

Gäh schwebt der Aufstieg und verwittert,

Und schwer ist's, am Geländer gehn;

Wer keuchend in den Knien zittert,

Tut besser, es gemalt zu sehn.


Auf fünfzig mürben Sandsteinstufen

Erklommen wir den Gipfel stramm

Und grüßten laut mit Willkommrufen

Des Himmels Blau vom schmalen Kamm.

Hocheinsam war's. Die wilde Taube

Entfloh dem Nest, vom Gruß verscheucht,[103]

Licht schien der Frühling rings im Laube

Und seine Nebel wallten feucht.


Seltsam Gefühl auf solchem Riffe

Von freiem Schweben ob der Kluft,

Als wandle sich die Burg zum Schiffe

Und treibe schwankend durch die Luft:

Als Mast der Turm mit hohen Rüstern,

Als Deck des Felskamms schmaler Horst,

Als Wellenschlag des Hochwalds Flüstern,

Als Meer der weite grüne Forst.


Wen echter Schwindel so bezwungen,

Dem fällt betäubt nichts andres ein,

Als Meister Gottfried schon gesungen:

»Sie slichen wider in ir stein.«

Da wölbt, zyklopisch anzuschauen,

Als Kammer sich ein schmal Gemach;

Ein einziger Pfeiler, grob behauen,

Trägt wuchtig alles Felsendach.


Hier in den langverlaßnen Mauern,

Die Moder weißlich überflog,

War's, daß der Urzeit heilig Schauern

Noch einmal durch die Trümmer zog.

Ein Gang fuhr auf: – in fernen Tiefen

Erschienen drei von Reckenart,

Die einen Heldenbergschlaf schliefen,

Dieweil den Tisch durchwuchs ihr Bart.


Der Leib wies Narben eingerissen,

Der Becher tausendjähr'gen Wein,

Dem waren Stirn und Aug' zerschlissen,

Dem fehlt' die Rechte – dem ein Bein.

Krugtragend in der Schläfer Kreise

Stund eine Jungfrau groß und schlank,

Als ob sie in Walkürenweise

Erst jüngst gebracht den Labetrank.
[104]

Und im Gewölb' erscholl mit Dröhnen

Ein Lied von fremd ureignem Klang,

Das einer in gewaltigen Tönen

Altfränkisch zu der Harfe sang:

Wie Held Waltari mit Hiltgunden

Aus Heunenland zum Rhein entritt

Und mit den Besten der Burgunden

Am Wasgenstein den Zwölfkampf stritt.


Dann war's, als ob die Saiten schrillten:

»Wann kommt die Zeit? wann bricht der Traum?

Wann greift ihr wieder nach den Schilden?

Wann grünt des Reichs verdorrter Baum?«

... Doch Hiltgund schwieg. Die Recken schwiegen,

Und alles schwieg ... Da kam ein Zwerg ...

Die Nebel sah man dichter fliegen,

Und mit Geknarr schloß sich der Berg.


– Walpurgistag, den ersten Maien,

Wo alle Tiefen offen stehn,

Ward von verfahrner Schüler zweien

Dies Wasgauwunder angesehn.

Sie mischten in der Höhlung Spalten

Waldmeisterkraut zu würzigem Wein

Und dichteten vergnügt und malten

Dies neue Lied vom Wasgenstein.

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 1, Leipzig/ Wien 1917, S. 102-105.
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