Tagelied

[297] Frei nach dem Provenzalischen.


(Raynouard V.p. 74.)


Einst ein Ritter lag am Herzen

Seinem Lieb, in Lust und Scherzen.

Küßend sprach er dann mit Schmerzen:

Süße Wonne! was geschieht?

Tag beginnt, und Nacht entflieht.

Ach!

Denn der Wächter ruft: Erwach'!

Eilig auf! Der Tag erscheint

Nach der Morgenröthe.


Süße Wonn', o käme nimmer

Doch der Morgenröthe Schimmer!

Weilte Nacht umhüllend immer,

Wo der Traut' in hohem Muth

An der Trauten Busen ruht!

Ach!

Denn der Wächter ruft: Erwach'!

Eilig auf! Der Tag erscheint

Nach der Morgenröthe.
[298]

Süße Wonne! wer kann nennen

Qualen, die im Innern brennen,

Wenn sich Freund und Freundin trennen?

Ich nur weiß es, der's empfand.

Weh, wie rasch die Nacht entschwand!

Ach!

Denn der Wächter ruft: Erwach'!

Eilig auf! der Tag erscheint

Nach der Morgenröthe.


Süße Wonn', ich muß von hinnen.

Denke mein in treuen Sinnen!

Was ich thun mag und beginnen,

Dennoch bleibt mein Herz ja hier,

Scheidet nimmer sich von dir.

Ach!

Denn der Wächter ruft: Erwach'!

Eilig auf! der Tag erscheint

Nach der Morgenröthe.


Süße Wonn' ich muß verderben,

In der Sehnsucht Qualen sterben,

Soll ich nicht dich bald erwerben,

Wird mir nicht dein Gruß zu Theil;

Du bist Leben mir und Heil.

Ach!

Denn der Wächter ruft: Erwach'!

Eilig auf! der Tag erscheint

Nach der Morgenröthe!

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 297-299.
Lizenz:
Kategorien: