Versuch über den verschiedenen Styl in Goethes früheren und späteren Werken

[339] Goethes Universalität ist mir oft von neuem einleuchtend geworden, wenn ich die mannichfaltige Art bemerkte, wie seine Werke auf Dichter und Freunde der Dichtkunst wirken. Der eine strebt dem Idealischen[339] der »Iphigenia« oder des »Tasso« nach, der andre macht sich die leichte und doch einzige Manier der kunstlosen Lieder und reizenden Dramolets zu eigen; dieser ergötzt sich an der schönen und naiven Form des »Hermann«, jener wird ganz entzündet von der Begeistrung des »Faust«. Mir selbst bleibt der »Meister« der faßlichste Inbegriff, um den ganzen Umfang seiner Vielseitigkeit, wie in einem Mittelpunkte vereinigt, einigermaßen zu überschauen.

Der Dichter mag seinem eigentümlichen Geschmacke folgen, und selbst für den Liebhaber kann das eine Zeitlang hingehn: der Kenner aber, und wer zur Erkenntnis gelangen will, muß das Bestreben fühlen, den Dichter selbst zu verstehen, d.h. die Geschichte seines Geistes, so weit dies möglich ist, zu ergründen. Es kann dieses freilich nur ein Versuch bleiben, weil in der Kunstgeschichte nur eine Masse die andre mehr erklärt und aufhellt. Es ist nicht möglich, einen Teil für sich zu verstehen; d.h. es ist unverständig, ihn nur im einzelnen betrachten zu wollen. Das Ganze aber ist noch nicht abgeschlossen; und also bleibt alle Kenntnis dieser Art nur Annäherung und Stückwerk. Aber ganz aufgeben dürfen und können wir das Bestreben nach ihr dennoch nicht, wenn diese Annäherung, dieses Stückwerk ein wesentlicher Bestandteil zur Ausbildung des Künstlers ist.

Es muß diese notwendige Unvollständigkeit umso mehr eintreten bei der Betrachtung eines Dichters, dessen Laufbahn noch nicht geendigt ist. Doch ist das keineswegs ein Grund gegen das ganze Unternehmen. Wir sollen auch den mitlebenden Künstler als Künstler zu verstehen streben, und dies kann nur auf jene Weise geschehn; und wenn wir es wollen, so müssen wir ihn ebenso beurteilen, als ob er ein Alter wäre; ja er muß es für uns im Augenblick der Beurteilung gewissermaßen werden. Unwürdig aber wäre es, den Ertrag unsers redlichen Forschens etwa deswegen nicht mitteilen zu wollen, weil wir wissen, daß der Unverstand des Pöbels diese Mitteilung nach seiner alten Art auf mannichfache Weise mißdeuten wird. Wir sollen vielmehr voraussetzen, daß es mehre einzelne gibt, die mit dem gleichen Ernst wie wir nach gründlicher Erkenntnis dessen streben, von dem sie wissen, daß es das Rechte sei.[340]

Ihr werdet nicht leicht einen andern Autor finden, dessen früheste und spätere Werke so auffallend verschieden wären, wie es hier der Fall ist. Es ist der ganze Ungestüm der jugendlichen Begeisterung und die Reife der vollendeten Ausbildung im schärfsten Gegensatze. Diese Verschiedenheit zeigt sich aber nicht bloß in den Ansichten und Gesinnungen, sondern auch in der Art der Darstellung und in den Formen, und hat durch diesen künstlerischen Charakter eine Ähnlichkeit teils mit dem was man in der Malerei unter den verschiedenen Manieren eines Meisters versteht, teils mit dem Stufengang der durch Umbildungen und Verwandlungen fortschreitenden Entwicklung, welchen wir in der Geschichte der alten Kunst und Poesie wahrnehmen.

Wer mit den Werken des Dichters einigermaßen vertraut ist, und sie mit Aufmerksamkeit auf jene beiden auffallenden Extreme überdenkt, wird leicht noch eine mittlere Periode zwischen jenen beiden bemerken können. Statt diese drei Epochen im allgemeinen zu charakterisieren, welches doch nur ein unbestimmtes Bild geben würde, will ich lieber die Werke nennen, die mir nach reiflichem Überlegen diejenigen zu sein scheinen, deren jedes den Charakter seiner Periode am besten repräsentiert.

Für die erste Periode nenne ich den »Götz von Berlichingen«; »Tasso« ist es für die zweite und für die dritte »Hermann und Dorothea«. Alles dreies Werke im vollsten Sinne des Worts, mehr und mit einem höhern Maß von Objektivität, als viele andre aus derselben Epoche.

Ich werde sie mit Rücksicht auf den verschiedenen Styl des Künstlers kurz durchgehn, und einige Erläuterungen aus den übrigen Werken für denselben Zweck hinzufügen.

Im »Werther« verkündigt die reine Absonderung von allem Zufälligen in der Darstellung, die gerade und sicher auf ihr Ziel und auf das Wesentliche geht, den künftigen Künstler. Er hat bewundernswürdige Details; aber das Ganze scheint mir tief unter der Kraft, mit der im »Götz« die wackern Ritter der altdeutschen Zeit uns vor Augen gerückt, und mit der auch die Formlosigkeit, die denn doch zum Teil eben dadurch wieder Form wird, bis zum Übermut durchgesetzt ist. Dadurch bekommt selbst das Manierierte in der Darstellung einen gewissen Reiz, und das Ganze ist[341] ungleich weniger veraltet als der »Werther«. Doch eines ist ewig jung auch in diesem, und ragt einzeln aus seiner Umgebung hervor. Dieses ist die große Ansicht der Natur, nicht bloß in den ruhigen sondern in den leidenschaftlichen Stellen. Es sind Andeutungen auf den »Faust«, und es hätte möglich sein müssen, aus diesen Ergießungen des Dichters den Ernst des Naturforschers vorauszusagen.

Es war nicht meine Absicht, alle Produkte des Dichters zu klassifizieren, sondern nur die bedeutendsten Momente im Stufengange seiner Kunst anzugeben. Ich überlasse es daher Eurem eignen Urteil, ob Ihr etwa den »Faust« wegen der altdeutschen Form, welche der naiven Kraft und dem nachdrücklichen Witz einer männlichen Poesie so günstig ist, wegen des Hanges zum Tragischen, und wegen andrer Spuren und Verwandtschaften zu jener ersten Manier zählen wollt. Gewiß aber ist es, daß dieses große Bruchstück nicht bloß wie die benannten drei Werke den Charakter einer Stufe repräsentiert, sondern den ganzen Geist des Dichters offenbart, wie seitdem nicht wieder; außer auf andre Weise im »Meister«, dessen Gegensatz in dieser Hinsicht der »Faust« ist, von dem hier nichts weiter gesagt werden kann, als daß er zu dem Größten gehört, was die Kraft des Menschen je gedichtet hat.

An »Clavigo« und andern minder wichtigen Produkten der ersten Manier ist mir das am merkwürdigsten, daß der Dichter so früh schon einem bestimmten Zwecke, einem einmal gewählten Gegenstande zu Gefallen, sich genau und eng zu beschränken wußte.

Die »Iphigenia« möchte ich mir als Übergang von der ersten Manier zur zweiten denken.

Das Charakteristische im »Tasso« ist der Geist der Reflexion und der Harmonie; nämlich daß alles auf ein Ideal von harmonischem Leben und harmonischer Bildung bezogen und selbst die Disharmonie in harmonischem Ton gehalten wird. Die tiefe Weichlichkeit einer durchaus musikalischen Natur ist noch nie im Modernen mit dieser sinnreichen Gründlichkeit dargestellt. Alles ist hier Antithese und Musik, und das zarteste Lächeln der feinsten Geselligkeit schwebt über dem stillen[342] Gemälde, das sich am Anfange und Ende in seiner eignen Schönheit zu spiegeln scheint. Es mußten und sollten Unarten eines verzärtelten Virtuosen zum Vorschein kommen: aber sie zeigten sich im schönsten Blumenschmuck der Poesie beinah liebenswürdig. Das Ganze schwebt in der Atmosphäre künstlicher Verhältnisse und Mißverhältnisse vornehmer Stände, und das Rätselhafte der Auflösung ist nur auf den Standpunkt berechnet, wo Verstand und Willkür allein herrschen, und das Gefühl beinah schweigt. In allen diesen Eigenschaften finde ich den »Egmont« jenem Werk ähnlich oder auf eine so symmetrische Art unähnlich, daß er auch dadurch ein Pendant desselben wird. Auch Egmonts Geist ist ein Spiegel des Weltalls; die andern nur ein Widerschein dieses Lichts. Auch hier unterliegt eine schöne Natur der ewigen Macht des Verstandes. Nur ist der Verstand im »Egmont« mehr ins Gehässige nüanciert, der Egoismus des Helden hingegen ist weit edler und liebenswürdiger als der des Tasso. Das Mißverhältnis liegt schon ursprünglich in diesem selbst, in seiner Empfindungsweise; die andern sind mit sich selbst eins und werden nur durch den Fremdling aus höhern Sphären gestört. Im »Egmont« hingegen wird alles, was Mißlaut ist, in die Nebenpersonen gelegt. Klärchens Schicksal zerreißt uns, und von Brackenburgs Jammer – dem matten Nachhall einer Dissonanz – möchte man sich beinah wegwenden. Er vergeht wenigstens, Klärchen lebt im Egmont, die andern repräsentieren nur. Egmont allein lebt ein höheres Leben in sich selbst, und in seiner Seele ist alles harmonisch. Selbst der Schmerz verschmilzt in Musik, und die tragische Katastrophe gibt einen milden Eindruck.

Aus den leichtesten, frischesten Blumengestalten hervor atmet derselbe schöne Geist jener beiden Stücke in »Claudine von Villabella«. Durch die merkwürdigste Umbildung ist darin der sinnliche Reiz des »Rugantino«, in dem der Dichter schon früh das romantische Leben eines lustigen Vagabunden mit Liebe dargestellt hatte, in die geistigste[343] Anmut verklärt, und aus der gröberen Atmosphäre in den reinsten Äther emporgehoben.

In diese Epoche fallen die meisten der Skizzen und Studien für die Bühne. Eine lehrreiche Folge von dramaturgischen Experimenten, wo die Methode und die Maxime des künstlerischen Verfahrens oft wichtiger ist, als das einzelne Resultat. Auch der »Egmont« ist nach des Dichters Ideen von Shakespeares römischen Stücken gebildet. Und selbst beim »Tasso« konnte er vielleicht zuerst an das einzige deutsche Drama gedacht haben, welches durchaus ein Werk des Verstandes ist (obgleich eben nicht des dramatischen), an Lessings »Nathan«. Es wäre dies nicht wunderbarer als daß der »Meister«, an dem alle Künstler ewig zu studieren haben werden, in gewissem Sinne, der materiellen Entstehung nach ein Studium nach Romanen ist, die wohl vor einer strengen Prüfung weder einzeln als Werke, noch zusammen als eine Gattung gelten dürften.

Dies ist der Charakter der wahren Nachbildung, ohne die ein Werk kaum ein Kunstwerk sein kann! Das Vorbild ist dem Künstler nur Reiz und Mittel, den Gedanken von dem was er bilden will, individueller zu gestalten. So wie Goethe dichtet, das heißt nach Ideen dichten; in demselben Sinne, wie Plato fodert, daß man nach Ideen leben soll.

Auch der »Triumph der Empfindsamkeit« geht sehr weit ab vom Gozzi, und in Rücksicht der Ironie weit über ihn hinaus.

Wohin Ihr »Meisters Lehrjahre« stellen wollt, überlasse ich Euch. Bei der künstlichen Geselligkeit, bei der Ausbildung des Verstandes, die in der zweiten Manier den Ton angibt, fehlt es nicht an Reminiszenzen aus der ersten, und im Hintergrunde regt sich überall der klassische Geist, der die dritte Periode charakterisiert.

Dieser klassische Geist liegt nicht bloß im Äußerlichen: denn wo ich nicht irre, so ist sogar im »Reineke Fuchs« das Eigentümliche des Tons, was der Künstler an das Alte angebildet hat, von derselben Tendenz wie die Form.[344]

Metrum, Sprache, Form, Ähnlichkeit der Wendungen und Gleichheit der Ansichten, ferner das meistens südliche Kolorit und Kostüm, der ruhige weiche Ton, der antike Styl, die Ironie der Reflexion, bilden die Elegien, Epigramme, Episteln, Idyllen zu einem Kreise, gleichsam zu einer Familie von Gedichten. Man würde wohl tun, sie als ein Ganzes und in gewissem Sinne wie ein Werk zu nehmen und zu betrachten.

Vieles von dem Zauber und Reiz dieser Gedichte liegt in der schönen Individualität, die sich darin äußert und zur Mitteilung gleichsam gehn läßt. Sie wird durch die klassische Form nur noch pikanter.

In den Erzeugnissen der ersten Manier ist das Subjektive und das Objektive durchaus vermischt. In den Werken der zweiten Epoche ist die Ausführung im höchsten Grade objektiv. Aber das eigentlich Interessante derselben, der Geist der Harmonie und der Reflexion verrät seine Beziehung auf eine bestimmte Individualität. In der dritten Epoche ist beides rein geschieden, und »Hermann und Dorothea« durchaus objektiv. Durch das Wahre, Innige könnte es eine Rückkehr zur geistigen Jugend scheinen, eine Wiedervereinigung der letzten Stufe mit der Kraft und Wärme der ersten. Aber die Natürlichkeit ist hier nicht selbst eine natürliche Ergießung, sondern absichtliche Popularität für die Wirkung nach Außen. In diesem Gedicht finde ich ganz die idealische Haltung, die andre nur in der »Iphigenia« suchen.

Es konnte nicht meine Absicht sein, in einem Schema seines Stufenganges alle Werke des Künstlers zu ordnen. Um dies durch ein Beispiel anschaulicher zu machen, erwähne ich nur, daß Prometheus z.B. und die Zueignung mir würdig scheinen, neben den größten Werken desselben Meisters zu stehn. In den vermischten Gedichten überhaupt[345] liebt jeder leicht das Interessante. Aber für die würdigen Gesinnungen die hier ausgesprochen sind, lassen sich kaum glücklichere Formen wünschen, und der wahre Kenner müßte im Stande sein, allein aus einem solchen Stück die Höhe auf der alle stehn, zu erraten.

Nur vom »Meister« muß ich noch einige Worte sagen. Drei Eigenschaften scheinen mir daran die wunderbarsten und die größten. Erstlich, daß die Individualität, welche darin erscheint, in verschiedne Strahlen gebrochen, unter mehrere Personen verteilt ist. Dann der antike Geist, den man bei näherer Bekanntschaft unter der modernen Hülle überall wiedererkennt. Diese große Kombination eröffnet eine ganz neue endlose Aussicht auf das, was die höchste Aufgabe aller Dichtkunst zu sein scheint, die Harmonie des Klassischen und des Romantischen. Das dritte ist, daß das eine unteilbare Werk in gewissem Sinn doch zugleich ein zwiefaches, doppeltes ist. Ich drücke vielleicht, was ich meine, am deutlichsten aus, wenn ich sage: das Werk ist zweimal gemacht, in zwei schöpferischen Momenten, aus zwei Ideen. Die erste war bloß die eines Künstlerromans; nun aber ward das Werk, überrascht von der Tendenz seiner Gattung, plötzlich viel größer als seine erste Absicht, und es kam die Bildungslehre der Lebenskunst hinzu, und ward der Genius des Ganzen. Eine ebenso auffallende Duplizität ist sichtbar in den beiden künstlichsten und verstandvollsten Kunstwerken im ganzen Gebiet der romantischen Kunst, im »Hamlet« und im »Don Quixote«. Aber Cervantes und Shakespeare hatten jeder ihren Gipfel, von dem sie zuletzt in der Tat ein wenig sanken. Dadurch zwar, daß jedes ihrer Werke ein neues Individuum ist, eine Gattung für sich bildet, sind sie die einzigen, mit denen Goethes Universalität eine Vergleichung zuläßt. Die Art, wie Shakespeare den Stoff umbildet, ist dem Verfahren nicht unähnlich, wie Goethe das Ideal einer Form behandelt. Cervantes nahm auch individuelle[346] Formen zum Vorbilde. Nur ist Goethes Kunst durchaus progressiv, und wenn auch sonst ihr Zeitalter jenen günstiger, und es ihrer Größe nicht nachteilig war, daß sie von niemanden erkannt, allein blieb: so ist doch das jetzige wenigstens in dieser Hinsicht nicht ohne Mittel und Grundlagen.

Goethe hat sich in seiner langen Laufbahn von solchen Ergießungen des ersten Feuers, wie sie in einer teils noch rohen teils schon verbildeten Zeit, überall von Prosa und von falschen Tendenzen umgeben, nur immer möglich waren, zu einer Höhe der Kunst heraufgearbeitet, welche zum erstenmal die ganze Poesie der Alten und der Modernen umfaßt, und den Keim eines ewigen Fortschreitens enthält.

Der Geist, der jetzt rege ist, muß auch diese Richtung nehmen, und so wird es, dürfen wir hoffen, nicht an Naturen fehlen, die fähig sein werden zu dichten, nach Ideen zu dichten. Wenn sie nach Goethes Vorbilde in Versuchen und Werken jeder Art unermüdet nach dem Bessern trachten; wenn sie sich die universelle Tendenz, die progressiven Maximen dieses Künstlers zu eigen machen, die noch der mannichfaltigsten Anwendung fähig sind; wenn sie wie er das Sichre des Verstandes dem Schimmer des Geistreichen vorziehn: so wird jener Keim nicht verloren gehn, so wird Goethe nicht das Schicksal des Cervantes und des Shakespeare haben können; sondern der Stifter und das Haupt einer neuen Poesie sein, für uns und die Nachwelt, was Dante auf andre Weise im Mittelalter.[347]


Andrea. Es freut mich, daß in dem mitgeteilten Versuch endlich das zur Sprache gekommen ist, was mir gerade die höchste aller Fragen über die Kunst der Poesie zu sein scheint. Nämlich die von der Vereinigung des Antiken und des Modernen; unter welchen Bedingungen sie möglich, inwiefern sie ratsam sei. Laßt uns versuchen, diesem Problem auf den Grund zu kommen!

Ludoviko. Ich würde gegen die Einschränkungen protestieren, und für die unbedingte Vereinigung stimmen. Der Geist der Poesie ist nur einer und überall derselbe.

Lothario. Allerdings der Geist! Ich möchte hier die Einteilung in Geist und Buchstaben anwenden. Was Sie in Ihrer Rede über die Mythologie dargestellt oder doch angedeutet haben, ist, wenn Sie wollen, der Geist der Poesie. Und Sie werden gewiß nichts dagegen haben können, wenn ich Metrum und dergleichen ja sogar Charaktere, Handlung, und was dem anhängt, nur für den Buchstaben halte. Im Geist mag Ihre unbedingte Verbindung des Antiken und Modernen stattfinden; und nur auf eine solche machte unser Freund uns aufmerksam. Nicht so im Buchstaben der Poesie. Der alte Rhythmus z.B. und die gereimten Sylbenmaße bleiben ewig entgegengesetzt. Ein drittes Mittleres zwischen beiden gibts nicht.

Andrea. So habe ich oft wahrgenommen, daß die Behandlung der Charaktere und Leidenschaften bei den Alten und den Modernen schlechthin verschieden ist. Bei jenen sind sie idealisch gedacht, und plastisch ausgeführt. Bei diesen ist der Charakter entweder wirklich historisch, oder doch so konstruiert als ob er es wäre; die Ausführung hingegen mehr pittoresk und nach Art des Porträts.

Antonio. So müßt Ihr die Diktion, die doch eigentlich wohl das Zentrum alles Buchstabens sein sollte, wunderlich genug zum Geist der Poesie rechnen. Denn obwohl auch hier in den Extremen jener allgemeine Dualismus sich offenbart, und im ganzen der Charakter der alten sinnlichen Sprache und unsrer abstrakten entschieden entgegengesetzt ist: so finden sich doch gar viele Übergänge aus einem Gebiete in das andre; und ich sehe nicht ein, warum es deren nicht weit mehr geben könnte, wenn gleich keine völlige Vereinigung möglich wäre.

Ludoviko. Und ich sehe nicht ein, warum wir uns nur an das Wort, nur an den Buchstaben des Buchstabens halten, und ihm zu Gefallen nicht anerkennen sollten, daß die Sprache dem Geist der Poesie näher steht, als andre Mittel derselben. Die Sprache, die, ursprünglich gedacht, identisch mit der Allegorie ist, das erste unmittelbare Werkzeug der Magie.[348]

Lothario. Man wird beim Dante, bei Shakespeare und andern Großen Stellen, Ausdrücke finden, die an sich betrachtet schon das ganze Gepräge der höchsten Einzigkeit an sich tragen; sie sind dem Geist des Urhebers näher als andre Organe der Poesie es je sein können.

Antonio. Ich habe nur das an dem Versuch über Goethe auszusetzen, daß die Urteile darin etwas zu imperatorisch ausgedrückt sind. Es könnte doch sein, daß noch Leute hinter dem Berge wohnten, die von einem und dem andern eine durchaus andre Ansicht hätten.

Marcus. Ich bekenne es gern, daß ich nur gesagt habe, wie es mir vorkommt. Nämlich wie es mir vorkommt, nachdem ich aufs redlichste geforscht habe, mit Hinsicht auf jene Maximen der Kunst und der Bildung, über die wir im ganzen einig sind.

Antonio. Diese Einigkeit mag wohl nur sehr relativ sein.

Marcus. Es sei damit wie es sei. Ein wahres Kunsturteil, werden Sie mir eingestehen, eine ausgebildete, durchaus fertige Ansicht eines Werks ist immer ein kritisches Faktum, wenn ich so sagen darf. Aber auch nur ein Faktum, und eben darum ists leere Arbeit, es motivieren zu wollen, es müßte denn das Motiv selbst ein neues Faktum oder eine nähere Bestimmung des ersten enthalten. Oder auch für die Wirkung nach außen, wo eben nichts übrig bleibt, als zu zeigen, daß wir die Wissenschaft besitzen, ohne welche das Kunsturteil nicht möglich wäre, die es aber so wenig schon selbst ist, daß wir sie nur gar zu oft mit dem absoluten Gegenteil aller Kunst und alles Urteils aufs vortrefflichste zusammen bestehn sehn. Unter Freunden bleibt die Probezeigung der Geschicklichkeit besser weg, und es kann doch am Ende in jeder auch noch so künstlich zubereiteten Mitteilung eines Kunsturteils kein anderer Anspruch liegen, als die Einladung, daß jeder seinen eignen Eindruck ebenso rein zu fassen und streng zu bestimmen suche, und dann den mitgeteilten der Mühe wert achte, darüber zu reflektieren, ob er damit übereinstimmen könne, um ihn in diesem Falle frei- und bereitwillig anzuerkennen.

Antonio. Und wenn wir nun nicht übereinstimmen, so heißt es am Ende: Ich liebe das Süße. Nein, sagt der andre, ganz im Gegenteil, mir schmeckt das Bittre besser.

Lothario. Es darf über manches einzelne so heißen und dennoch bleibt ein Wissen in Dingen der Kunst sehr möglich. Und ich denke, wenn jene historische Ansicht vollendeter ausgeführt würde, und wenn es gelänge, die Prinzipien der Poesie auf dem Wege, den unser philosophischer Freund versucht hat, aufzustellen: so würde die Dichtkunst ein Fundament haben, dem es weder an Festigkeit noch an Umfang fehlte.

[349] Marcus. Vergessen Sie nicht das Vorbild, welches so wesentlich ist, uns in der Gegenwart zu orientieren, und uns zugleich beständig erinnert uns zur Vergangenheit zu erheben, und der bessern Zukunft entgegen zu arbeiten. Laßt wenigstens uns an jener Grundlage halten und dem Vorbilde treu bleiben.

Lothario. Ein würdiger Entschluß, gegen den sich nichts einwenden läßt. Und gewiß werden wir auf diesem Wege immer mehr lernen, uns über das Wesentliche einander zu verstehn.

Antonio. Wir dürfen also nun nichts mehr wünschen, als daß wir Ideen zu Gedichten in uns finden mögen, und dann das gerühmte Vermögen, nach Ideen zu dichten.

Ludoviko. Halten Sie es etwa für unmöglich, zukünftige Gedichte a priori zu konstruieren?

Antonio. Geben Sie mir Ideen zu Gedichten, und ich getraue mir, Ihnen jenes Vermögen zu geben.

Lothario. Sie mögen in Ihrem Sinne recht haben, das für unmöglich zu halten, was Sie meinen. – Doch weiß ich selbst aus eigner Erfahrung das Gegenteil. Ich darf sagen, daß einigemal der Erfolg meinen Erwartungen von einem bestimmten Gedicht entsprochen hat, was auf diesem oder jenem Felde der Kunst nun eben zunächst notwendig oder doch möglich sein möchte.

Andrea. Wenn Sie dieses Talent besitzen, so werden Sie mir also auch sagen können, ob wir hoffen dürfen, jemals wieder antike Tragödien zu bekommen.

Lothario. Es ist mir im Scherz und auch im Ernst willkommen, daß Sie diese Aufforderung an mich richten, damit ich doch nicht bloß über die Meinung der andern meine, sondern wenigstens eins aus eigner Ansicht zum Gastmahl beitrage. – Wenn erst die Mysterien und die Mythologie durch den Geist der Physik verjüngt sein werden, so kann es möglich sein, Tragödien zu dichten, in denen alles antik, und die dennoch gewiß wären durch die Bedeutung den Sinn des Zeitalters zu fesseln. Es wäre dabei ein größerer Umfang und eine größere Mannichfaltigkeit der äußern Formen erlaubt ja sogar ratsam, ungefähr so wie sie in manchen Nebenarten und Abarten der alten Tragödie wirklich stattgefunden hat.

Marcus. Trimeter lassen sich in unsrer Sprache so vortrefflich bilden wie Hexameter. Aber die chorischen Sylbenmaße sind, fürchte ich, eine unauflösliche Schwierigkeit.

Camilla. Warum sollte der Inhalt durchaus mythologisch und nicht auch historisch sein?

[350] Lothario. Weil wir bei einem historischen Süjet nun einmal die moderne Behandlungsart der Charaktere verlangen, welche dem Geist des Altertums schlechthin widerspricht. Der Künstler würde da auf eine oder die andre Art gegen die antike Tragödie oder gegen die romantische den kürzern ziehen müssen.

Camilla. So hoffe ich, daß Sie die Niobe zu den mythologischen Süjets rechnen werden.

Marcus. Ich möchte noch lieber um einen Prometheus bitten.

Antonio. Und ich würde unmaßgeblich die alte Fabel vom Apollo und Marsyas vorschlagen. Sie scheint mir sehr an der Zeit zu sein. Oder eigentlicher zu reden ist sie wohl immer an der Zeit in jeder wohl verfaßten Literatur.

Quelle:
Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 339-351.
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