Ad Lectorem.

Einer soll dem andern dienen. Das ist eine allgemeine Pflicht, der sich kein Mensch, geschweige ein Christ zu entziehen hat. Niemand soll meynen, er sey sibi soli natus, bloß und allein um sein selbst willen auf diese Welt kommen, sondern daß er auch andern zu Dienst und Liebe lebe. Hebet gleich die Liebe von sich selbst an, so höret sie doch nicht bey ihr selbst auf, und suchet nicht allein das ihrige, sondern hilfft auch dem Nächsten allenthalben mit Rath und That: je edler auch das Gemüth an einem Menschen, desto williger läßt er sich finden, des andern Bestes zu befördern; er hält mit jenem löbl. Käyser den Tag vor verlohren, an welchem er niemand einigen Dienst und geneigten Willen erwiesen hat; gleich der Sonnen, dem edlen Geschöpffe GOttes, die ihr Licht und Wärme nicht vor sich behält, sondern der Unterwelt mittheilet, und also derselben Dienerin ist: Wie es hingegen ein Zeichen eines unedlen Gemüthes ist an einem Menschen, wenn er sichs verdriessen läßt dem Nächsten zu Gefalle über die Stube zu gehen, das Maul aufzuthun oder eine Feder anzusetzen, und dem alles, was er in eines andern Sachen thut, aufs theuerste muß abgekaufft und bezahlt werden. Wenn wir unsern eigenen Leib ansehen, so werden wir gewahr, wie an demselben ein Glied dem andern dient, nicht nur die geringer zu seyn scheinen denen, die vor ehrlicher gehalten werden, sondern auch diese jenen, uns zur heiml. Erinnerung, daß wir einander nutze seyn sollen, indem wir unter einander Glieder sind; Glieder, was so wohl das politische gemeine Wesen, als auch was die Christl. Republique anbetrifft, und also in einer solchen Verbindung stehen, daß einer dem andern zu dienen gehalten, indem der Niedrige des Hohen bedarff, und der Hohe des Niedrigen nicht wohl entbehren kan. Der gelehrte Mann und Bibliothecarius zu Heydelberg, Janus Gruterus, soll überaus dienstwillig gewesen seyn, und einem iedweden, der ihn angesprochen, gern gewillfahret haben, ungeachtet er nachgehends vielmahl erfahren müssen, daß seine Wohlthaten nicht allezeit zum besten sind angelegt worden.1 Der Heydnische Poet Menander hat nicht unrecht geschrieben: χρηςὸς ἀνὴρ κοινὸν ἀγαθὸν ein rechtschaffener Mann sey ein gemein Gut. Er dient dem gemeinen Besten mit der Gabe, die er empfangen hat, und schafft Nutzen, so gut er kan u. weiß.

Der werthe Mann, der diese Aberglauben zusammen getragen und durch den Druck gemein gemacht hat, hat dabey wohl keine andere Intention gehabt, als daß er seinem Nächsten damit dienen wollen. Er hat wahrgenommen, wie in dem gemeinen Leben alles mit Aberglauben angefüllet, und der Welt ihr so ergeben sey, ungeachtet er, wie ihn eine gelehrte Feder beschreibet,2 nichts anders ist als eine vergebliche Hochachtung eines Dinges, welches weder von GOtt geboten noch natürliche Ursachen hat, und doch aus demselben entweder böses oder gutes ominiret wird. So meynte er denn, einen guten Dienst gethan zu haben, wenn er solcher Aberglauben natürl. Gestalt aufdeckte, und denen, die solche nicht gnug einsähen, die absurditäten davon vor Augen legte, ob die in diesen Dingen so albere Welt einmahl wolte anfangen klüger zu werden, und die abgeschmackte Possen zu erkennen; fast wie auch in der gelehrten Welt viel pedantereyen in bißherigen Zeiten sind aufgedecket worden, und man nunmehro Mittel gefunden hat, gesünder zu philosophiren. Es hat ein gewisser Prediger um hiesige Gegend sich diese Aberglauben zur Gelegenheit dienen lassen, in einem Jahrgange seiner Gemeinde, in welcher auch viel abergläubisches Wesen passiret, in iedem Exordio einen Aberglauben vorzuhalten, und drauf aus dem Evangelio eine wahre Glaubens-Lehre vorzutragen, welches denn mit sonderbarer Erbauung ist gethan gewesen. Und so ist kein Zweiffel, es werde der Nutz von dieser Vorstellung sich noch bey andern Gelegenheiten vielfältig zeigen. Nachdem nun von solchen Aberglauben zuvor Vier-Hundert sind ediret gewesen, so kömmt nunmehro zu solchen hiermit auch das fünffte und sechste Hundert, wobey es auch sein Bewenden haben wird. Denn indem ich dieses schreibe, so erfahre ich, daß der Hr. Autor ausgedient, und vor einigen Tagen zu GOtt, dem er gedient, in Friede aufgenommen worden. Der geneigte Leser wird sich solcher Arbeit zu seinen Gefallen bedienen, zu dessen Diensten man noch fernerweit sich wird bereit finden lassen. Geschrieben zu Chemnitz d. 22. April. 1722.

Fußnoten

1 vid. Witten. Mem. Philos. Dec. II. p. 254.


2 Geier. Diss. de Superstit. c. 1. §. 4. sq.


Quelle:
Schmidt, Johann Georg: Die gestriegelte Rocken- Philosophie. Band 2, Chemnitz 1722 [Nachdruck Weinheim; Deerfield Beach, Florida 1987]..
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