Alfred Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

[195] Mein lieber Theodor!

Wie lange hab' ich Dir nicht geschrieben? Einen Tag oder acht? Oder einen Monat? Oder eine halbe Jugend lang? Und warum setze ich jetzt die Feder an? Warum lieg' ich nicht lieber, wie ich jetzt so oft und ganze Stunden tue, auf meinem Diwan, die schönen Augenblicke weiterträumen, deren Erinnerung ich mit mir nach Hause bringe. Wer es mir vor einer Woche prophezeit hätte! Ach, nun bin ich doch wenigstens wieder in der Zeitrechnung drin. Heute ist wieder Sonntag. Ja, ja, es ist nicht länger als acht Tage, daß es begann. Nun ja, mein lieber Theodor, ich lebe ein zärtliches Idyll, in dessen Verlauf ein Tag ist wie der andere, das kein Ende zu haben scheint, von dem man sich kaum einen Anfang vorstellen kann. Ja, ich lebe es, denn ich fühle nicht mehr, daß ich es spiele. Wenn ich des Abends den breiten weichen Hut und den Samtrock nehme, so ist mir, als könnt' es gar nicht mehr anders sein, und wenn ich mit dem süßen Geschöpf ins Freie hinausspaziere und Arm in Arm mit ihr weit draußen an der Grenze der Stadt oder im Wald herumflaniere, dann weiß ich[195] kaum mehr, daß es lauter Lügen sind, die ich ihr von mir erzähle, denn die Hauptsache ist ja doch wahr: daß ich mich nämlich seit einer unsäglich langen Zeit nicht so wohl befunden wie jetzt.

Ja, es ist wieder einmal die Jugendliebe, die erste Liebe, wenn du willst, die man ab und zu wieder erlebt, wenn man ein Sonntagskind ist oder wenn das Schicksal einen für einen guten Einfall belohnen will. – Weißt Du, daß ich zuweilen glaube, ich bin die letzten Jahre verkleidet durch die Welt gegangen und habe jetzt die Maske abgelegt? Ich begreife selbst nicht, was mir für Worte über die Lippen kommen, wenn ich mit ihr bin, und was für Stimmungen mich einhüllen. Was das für Stunden sind abends auf dem Lande! Und neulich einmal, am Morgen, als wir irgendwo, nicht weit von Wien, aber in einem jener Orte, wo nie ein Wiener hinkommt, in einem kleinen Gasthof erwachten und durchs Fenster herein ein himmelblauer Tag lachte! Wie wir uns den Tisch in den kleinen Obstgarten rücken ließen und unsern Kaffee tranken, während der Morgenwind leise durch die Bäume rauschte. – Wenn wir getrennt sind und sie zu ihrer Arbeit zurückkehrt, so wie ich angeblich zu der meinigen – da habe ich ein kindisches Bedürfnis, vor ihrem Fenster auf und ab zu gehen, um nur in ihrer Nähe zu sein. Und dabei ist das Komische, ich weiß erst seit gestern, wo ihr Fenster ist. Die Gasse, wo sie wohnt, kannte ich. Aber das Fenster, hinter dem sie arbeitet – das war auch so eine der zärtlichen Ideen, die sich in ihrem Kindskopf tummeln –, das sollt' ich selbst heraussuchen, und ich mußte es finden, wenn ich sie wirklich lieb hätte. Und da bin ich denn vor den sechsundsiebzig Fenstern im dritten Stockwerk, die sich in jener Gasse befinden, auf und abgegangen und habe das ihre, nun magst Du lachen, wenn Du willst, richtig aus den sechsundsiebzig (ich habe sie gezählt) herausgefunden. Sie war selig, wie ich ihr's sagte. An den Blumen hatte ich es erkannt. Und nun muß ich Dir sogar gestehen, daß ich heute nacht in dieser Gasse auf und ab gegangen und im Mondenschein vor dem Fenster gestanden bin wie ein dummer Bub! – Das ist, was die Sache so sonderbar und neu für mich macht: Dieses Ineinandergleiten von Stimmungen keuscher Jugendliebe und reifen Schwelgens. Und denke nur: vollkommen um meiner selbst willen werd' ich geliebt. Die Veilchen, die ich ihr bringe, küßt sie tausend Mal'. Und unsere Abende in den kleinen Wirtsgärten der Vorstadt! Und wie ich ihr dann, wenn wir so zusammensitzen vor dem Glas »Gespritzten«, von meiner früheren Existenz erzähle! Du bist gewiß[196] nicht böse, wenn ich Dir gestehe, daß ich teilweise Deine Biographie und ganz speziell Deine Lehr-, Studien- und Liebesjahre in München mit jenen Veränderungen, welche mein schwaches Gedächtnis notwendig macht, benütze und mir auch gestatte, Deine Fußwanderungen durch Thüringen und die Schweiz und insbesondere Dein Genfer Abenteuer mit der englischen Malerin für meinen Gebrauch zu bearbeiten. Ach, wie sie da an meinen Lippen hängt! Wie man ihr die Rührung ansieht! – Und dann laß ich mir wieder von ihr erzählen; da kommen mir wirklich manchmal die Tränen! An wieviel Traurigkeit und Süßigkeit wir doch vorübergehen, um Lustiges und Schales dagegen einzutauschen. Denn meine Verliebtheit macht mich durchaus nicht blind, und ich bin überzeugt, daß es noch hundert solcher Geschöpfe wie meine kleine Josefine gibt. Aber mir ist manchmal, als würde es jetzt erst der Kleinen klar, was bisher mit ihr geschah, und ich fühle, wie dankbar sie mir für die Art und Weise ist, in der ich sie behandle! Und mit eigentümlicher Wehmut erfüllt es mich, wenn ich an ihre Zukunft denke, denn, siehst Du, daß ich sie verlassen werde, das weiß ich ja doch! Und es wird vielleicht nicht einmal besonders traurig sein. – Aber gerade das tut mir weh – ist das nicht sonderbar?

Manchmal denk' ich mir, wie ihr geschähe, wenn ich plötzlich in meiner wahren Gestalt vor sie hinträte. Ob da nicht der ganze Zauber vorbei wäre? Ob sie nicht eben meine Maske liebt? Sie würde es schmerzlich empfinden, wenn sie entdeckte, wie fern wir uns eigentlich im Leben stehen, denn sie hat manche Erlebnisse meiner Vergangenheit liebgewonnen. Es gibt Dinge, die sie sich gern wieder erzählen läßt. So hab' ich ihr schon drei- oder viermal eine ganz unglaubliche Geschichte von ein paar verzweifelten Tagen erzählt, in denen ich dem Selbstmord nahe war, weil ich fast verhungert wäre. Denn unsere Armut bringt uns einander nahe. Nun, ich glaube, sie verdient sich genug und hat augenblicklich keinen Mangel zu leiden. Aber Du hast gar keine Ahnung, wie rasend mich zuweilen die Lust erfaßt, das Leben dieses süßen, armen Geschöpfes reich und sorgenlos zu gestalten, und wie ich es doch nicht wagen würde, auch nur eine Andeutung in diesem Sinne zu machen. Ja, dann wär' alles vorbei. Blumen läßt sie sich schenken. Nächstens will ich's einmal mit einer Kleinigkeit versuchen, zum Beispiel ein winziges Herzchen aus Gold, das sie sich um den Hals hängen kann. Aber nun ist's genug, denn ich kann Dir ja doch das Rechte nicht sagen.[197] Jugendliebe, ich finde kein anderes Wort! Ich beneide Dich selbst um Dein Neapel nicht mehr und um Deine Neapolitanerin. – Heute abend wollen wir wieder aufs Land. Da weiß ich nun wirklich nicht, was dann entzückender ist: die zärtlichen Stunden im Wald oder die Heimfahrt. Jetzt sind wir ein paar Mal mit dem Omnibus vom Land zurückgekommen – natürlich – weil's billiger ist –, und ich sollte nicht so viel Geld ausgeben, sagte sie neulich, als ich wieder einen Einspänner nehmen wollte. Nach dem, was sie vor mir erlebt, frag' ich sie wenig. Mir genügt die Empfindung, daß ich eine Art Erlösung für sie bedeute. Ich wollte gar nicht, daß sie gar nichts zu vergessen hätte! Da wäre sie ja nicht die, welche ich eigentlich suchte. Nein, ich wollte nicht das Mädchen, das ich verführe und das mir nachweint, nein, eines ihrer reifen Erlebnisse will ich bedeuten, aber das beste, das sie weder sich noch mir einmal vorzuwerfen hat. Ich werde eines Tages aus ihrer Existenz verschwinden, wie ich gekommen bin. Wie ich fühle, daß das Ende kommt, reise ich ab und schreibe ihr dann von da oder dort, aber ohne ihr zu sagen, daß ich eigentlich eine Komödie gespielt. Ich werde ein schöner Traum für sie gewesen sein. – Aber genug, genug. Du hörst bald wieder von mir, vielleicht nicht von Wien aus. Denn wir haben die Absicht, uns auf ein paar Tage aufs Land zurückzuziehen, ganz in die Einsamkeit – unter Bäumen, süß zu träumen, wie der Dichter der Gräfin Melanie sagt.

Lebe wohl für heute und schreibe mir doch auch bald wieder.

Dein

Alfred

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 195-198.
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