Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

[175] Mein lieber Theodor!

Besten Dank für Deinen Brief! Mensch, wie beneide ich Dich! Wie hat mir das entgegengesprüht und -geglüht aus Deinen Zeilen, was für ein Leben lebst Du! Du verstehst Dich eben aufs Alleinsein, und wenn Du eine Stunde ins Blaue hineinschaust, hast Du mehr hinter Dir, als wenn unsereiner ein Jahr lang herumabenteuert.

Ich bitte Dich recht schön, nenne meinen Zustand nicht Weltschmerz – es ist ein ganz gemeiner Ichschmerz, aber nein, nicht einmal das, Langeweile ist's – nichts weiter. Ich kann es mir nicht verhehlen, daß mir die Welt und ihre Leiden vollkommen egal sind. – Neulich bin ich durch den Fritz im Schreiben unterbrochen worden. Herr im Himmel, war das wieder ein Abend! Und ich wollte damals lustig sein. Es sollte einen letzten Versuch bedeuten. Ich trank, und ich bekam Kopfweh statt einen Rausch. Seine Geliebte kokettierte mit mir, es machte mich zornig, statt mich zu amüsieren. Eine Leere, eine Leere, sag' ich Dir!

Es steht fest: um mich aufzurütteln, muß etwas ganz Besonderes kommen. Ob ich aber dieses ganz Besondere überhaupt noch auffassen kann, wenn es schon die Güte haben sollte, zu erscheinen! Und dann wird mich jedenfalls der Zweifel plagen. Ist dieses Besondere nicht das Gewöhnliche in irgendeiner Verkleidung, die zu durchschauen ich schon zu stupid bin? – Siehst Du, jetzt kommt der Moment, wo ich es bedauere, kein Talent, aber auch zu gar nichts ein Talent zu haben! Ich erinnere mich jetzt mit einer Art Beschämung an die Zeit, wo ich zuweilen über Dich lächelte, weil Du Talent hattest. Das kam mir so gar nicht chic vor – und ich hatte eine souveräne Verachtung für alle Leute, die etwas leisten wollten. Und jetzt, ich sage Dir, wenn ich nur Porträte malen könnte, wäre ich schon glücklich. Das Photographieren habe ich nämlich ganz aufgegeben, nicht einmal darin hab'ich's zu was gebracht. Meine letzten zwei Kunstwerke waren: der Kahlenberg vom Leopoldiberg gesehen und der[176] Leopoldiberg vom Kahlenberg aus gesehen. Und schau, jetzt ist mir mein einziges, bescheidenes Talent verlorengegangen: mich zu unterhalten. Ja, ich vermeide ängstlich jede Gelegenheit, wo es noch möglich wäre – weil mich die letzten Enttäuschungen verstimmt haben. Kopfweh statt Rausch – das ist so die Signatur meiner ganzen Existenz. Also nur natürlich, daß ich mich vor dem Wein hüte. Heute ist Sonntag; und jetzt, während ich auf meinem Diwan lümmle und diese Zeilen mit Bleistift kritzle, sind sie alle beim Rennen unten. Um zwei hat der Fritz heraufgeschickt – ob ich nicht vielleicht doch mit hinunter möchte; ich bin zum Fenster gegangen und habe ihm abgewunken. Und dann ist er mit dem Fiaker davongesaust, und der Stangelberger, sein Kutscher, wie er mich im Morgenanzug beim Fenster lehnen sieht, kneift ein Auge zu und denkt sich: Aha, ein nächtliches Abenteuer, das sich bis zum nächsten Mittag ausdehnt! – Oh, wo sind die Zeiten, daß der Stangelberger recht gehabt hätt'!! Jetzt ist fünf. Noch ziemlich heiß, und meine Rouleaux sind heruntergelassen. Und ganz still, ganz still. Nach Tisch hab' ich eine Stunde geschlafen, und jetzt werde ich mich anziehn und als gemeiner Fußgänger hinunter in den Prater und die Rückfahrt vom Derby anschaun.

Erinnerst Du Dich noch an den schönen ersten Mai mit den zwei süßen Geschöpferln da unten – das sind jetzt zehn Jahre her. Damals sind wir den zwei Mupipusserln volle anderthalb Stunden nachgestiegen, bis die Mama verlorengegangen ist. – Und dann haben wir ihnen den Weg gezeigt! – Erinnerst Du Dich? – Allerdings haben sie den Weg schon gekannt! – Heut sollt' mir einer vorschlagen, einem weiblichen Wesen anderthalb Stunden nachzulaufen! – Wo ist die, für die ich solch eines Opfers fähig wäre?

Auf dem Konstantinhügel habe ich Rendezvous mit Fritz, Weidenthaler und so weiter. Natürlich die Weiber dabei! – Ich geh' nicht hin. Soll die Mizi den Fritz mit wem anderen betrügen; es kommt ihr doch sicher viel mehr aufs Betrügen an als auf mich! – Nein, nicht auf den Konstantinhügel, in den Wurstlprater geh' ich heut, mich so recht encanaillieren. – Erstens mich vor'n Wurstl hinstellen, zuschauen, und wenn sie den Juden totschlagen, werd' ich eine Freud' haben wie ein Schneidergesell! Und dann geh' ich in den Velozipedzirkus, wo die käuflichen Damen mit den siebenfarbigen Strümpfen herumradeln – und dann gehe ich zum Wahrsager und zum Präuscher samt Extrakabinett. Und zum Calafatti.[177]

Servus, mein Lieber, schreib mir was, und ich laß die schönen Neapolitanerinnen grüßen.

Dein

Alfred

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 175-178.
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