Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

[202] Mein lieber Theodor!

Wieder in Wien, seit zwei Tagen nämlich. Wir waren eine ganze Woche draußen, und wenn ich jetzt so daran zurückdenke, so muß ich wirklich sagen: es war sehr hübsch. Nur am letzten Tag war es etwas ungemütlich, stell Dir vor – einen Guß von morgens bis abends – daher war es wohl auch der letzte Tag. Oh, – sonst. Aber denk Dir nur, so stundenlang in dem miserablen Zimmer beim Fenster stehen, sich nicht hinausrühren können, weil man in Kot versinkt. – Abscheulich! Da faßten wir den Entschluß, heimzufahren. Ich sag' Dir, wie wir unsere Habseligkeiten einpackten, ach, ich glaube, so lustig waren wir eigentlich die ganzen acht Tage nicht. Es scheint überhaupt, allzugroße Zärtlichkeit schließt die Fidelität aus. – Hat ja entschieden etwas für sich, die Schwermut in der Liebe, und ich hatte ja recht, mich wieder einmal nach diesem Genre zu sehnen. Schwermut, das kann man eigentlich nicht sagen. Na, was hilft die Theorie – es war ja wunderschön, das steht fest. Es war? Hm, nein es ist, und wird sogar hoffentlich noch lange sein, wie Du sofort begreifen wirst. Eines wurde mir nämlich da draußen klar, daß sich die Geschichte mit den liegenden Kragen und dem Omnibus und den Versuchen zu dichten auf die Dauer unmöglich halten würde. – Auch das Dritteklaßfahren ist nicht meine Schwäche. – Also, jetzt hör einmal! Wie wir am Abend nach Wien hineinfahren, riskier' ich's und nehm' Billets erster Klasse. Ja, das Gesicht von[202] dem Mädel hättest Du sehen sollen. Wie nun der Zug hält und ich sie vorbeiführe – an allen Wagen ruhig zu einem erster Klasse, der natürlich leer war! Ja, was machst denn? ruft sie. Ich ungefähr in dem Ton, als wenn ich ihr ein Fest geben wollte: Komm nur, komm nur. – Und nun sitzen wir mit einem Mal in den behaglichen samtenen Fauteuils mit den weißen Spitzenüberzügen, und sie schaut sich nur so um. – In dem Moment war sie das echte Vorstadtmädel, das in den Salon kommt. Ja, was fällt dir denn ein, ruft sie aus; aber, statt zu schmollen, wie ich's eigentlich für den ersten Moment erwartet, fällt sie mir um den Hals, küßt mich ab und springt wie ein kleines Kind in dem Kupee hin und her, so daß sie schließlich, wie sich der Zug stark bewegt, in meine Arme sinkt. Es war eine der schönsten Stunden, die wir je miteinander verbracht hatten. Jetzt könnt' ich schon mutiger sein, in Wien am Bahnhof – ich riskier's und nehm' einen Fiaker. Sie sah mich an und sagte mir: Ja, bist du verrückt? – Ich glaubte, eine Erklärung versuchen zu müssen: Wir hatten ja durch unsere frühere Abreise ein paar Tage auf dem Lande erspart. – An der Ecke ihrer Straße nahm sie zärtlich Abschied; natürlich durfte der Fiaker nicht bis vor ihr Haus fahren. – Das war gestern. Und heute soll folgendes geschehen: In einer Stunde trete ich vor sie hin – und zwar diesmal in meiner wahren Gestalt. Ich riskier's – denn sie liebt mich. Wir haben unser Rendezvous wie gewöhnlich draußen – nahe der Linie. Heute aber komme ich nicht mit fliegender Krawatte, zu Fuß und mit einem schwärmerischen Blick; nein, mit dem Fiaker komm' ich angefahren und einem namenlos eleganten Sommeranzug, einer Echarpe um acht Gulden, einem englischen Strohhut und werde Fräulein Pepi mit einem freundlichen Neigen des Kopfes einladen, an meiner Seite Platz zu nehmen, und ihr gesteh'n, daß ich ein schändliches Spiel mit ihr gespielt und daß ich ein wohlhabender Mann bin, der leider gar nicht dichten kann. – Es wird ein harter Schlag für sie sein; aber ihr Benehmen im Kupee erster Klasse läßt mich hoffen, daß es mir gelingen wird, sie zu trösten. Alles liegt bereit – ah, ich bin eigentlich glücklich, daß ich heute abend wieder wie ein vernünftiger Mensch auf die Straße gehen kann.

Jetzt aber legt sie die Arbeit weg und macht sich zum Spaziergang bereit. Armes Kind! Mir tut es eigentlich wohl, daß ich nun hoffentlich in die Möglichkeit versetzt sein werde, ihre Lage ein wenig zu verbessern. Und ich bin eine ganze Zeit, nämlich vierzehn Tage lang, um meiner selbst willen geliebt worden; was[203] kann mir jetzt noch Schlimmes geschehen? Es wird spät, lieber Theodor, morgen schreib' ich Dir wieder!

Dein

Alfred

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 202-204.
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