Alfred von Wilmers an Theodor Dieling in Neapel

[206] Mein lieber Freund!

Die Koffer sind gepackt – ich reise ab. Nicht allein. Sende Deine Briefe nach Dieppe, ich will Dir nur das in Kürze melden; von dort erfährst Du, was mit mir geschehen ist seit fünf Tagen. Heut hab' ich keine Zeit dazu. Das Abenteuer mit der kleinen Stickerin ist aus. An jenem Abend, wo ich meine Maske abwarf, ging es zu Ende. Wir haben damals viel gelacht, denn sie hat mir eine ähnliche Komödie vorgespielt wie ich ihr. Oh, Theodor, sie hat ebensowenig je gestickt, als ich je gedichtet habe. Sie ist Toiletten[206] von fünfhundert bis tausend Gulden und Hüte um achtzig gewohnt. Sie hat Brillanten und Perlen. Sie hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich. Ich fahre mit ihr nach Dieppe und zahle ihre Rechnungen. Ich halte sie aus, und übermorgen wird sie mich betrügen. Halte mich für keinen Optimisten, weil ich übermorgen sage; auf der Eisenbahn ist ja wirklich keine Gelegenheit. – Die kleine Komödie ist aus, wie Du siehst, aber aus dem Trauerspiel, das sich entwickeln könnte, werde ich mich rechtzeitig zu flüchten wissen. Nach Schluß des ersten Aktes (Szene: Dieppe) werde ich lächelnd hinter den Kulissen verschwinden.

Dein

Alfred[207]

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 206-208.
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