Josefine Weninger an Helene Beier in Paris

[178] Meine liebe gute Helene!

Also eine große Neuigkeit. – Du ahnst es schon, mit dem Emil ist es nämlich aus. Nun ja, es macht doch immer ein bißchen traurig, denn der Abschied ist nun einmal doch ein Abschied; und das Adieusagen, Adieu auf immerdar, wie ich schon oben gesagt, ist eine große Melancholie. Aber wenn ich grad nicht dran denke, befinde ich mich eigentlich viel wohler als in der ganzen letzten Zeit. Es waren nämlich sehr unangenehme Tage, diese letzten, bevor es zum Bruche kam. Ich habe es schon lange bemerkt, wie ich Dir ja neulich schrieb, meine gute Helene. Wenn er abends zu mir kommen sollte, Absagen, zwei in einer Woche, und dann hat er mich öfters allein in' Prater fahren lassen und mich sogar ins Theater geschickt, ohne daß er drin war! – Na, das kennt man, das ist dann schon nicht mehr die wahre Liebe! Ich nehme es ihm nicht übel; denn ich hab' in der letzten Zeit wirklich schon gar nicht mehr für ihn geschwärmt. Aber ich muß Dir doch das Ganze erzählen, wie es schließlich gekommen ist.

Letzten Dienstag, also heut vor acht Tagen, kommt wieder so ein Brieferl von ihm, abends um halb acht, er kann nicht erscheinen. Morgen zu Mittag wird er so frei sein zu fragen, wie ich geruht. Du weißt, er hat immer solche Höflichkeitsformeln gehabt, was mir sehr gut gefallen hat, nie was Rohes, nie – immer, als wenn er mir höchstens die Hand küssen dürfte. – Ein schöner Abend war's auch, ich eine fürchterliche Langweil vor mir – da denk' ich mir, nimmst dir einen Wagen und fahrst spazieren. Es war schon halb dunkel, also ich nehm' mir einfach den Mantel um und lauf' hinunter. Wie ich dann um den Ring fahre, wird mir riesig wohl, die Luft war so angenehm, so mild, und ich denk' mir, es ist ganz gut, daß die ganze Geschichte endlich aus wird. In dem Moment waren mir alle Männer ganz gleichgültig – aber vollkommen; nicht nur er, was ich ja schon gewöhnt war.

Ich laß den Kutscher langsam fahren, steig' beim Stadtpark aus, laß ihn nachfahren, steig' beim Museum wieder ein und dann[178] um den ganzen Qual und Ring herum; und wie ich nach Hause komme, ist richtig neun vorbei. Ich gemütlich hinauf; da sagt mir die Lina: »Fräulein, der gnädige Herr ist schon seit einer Stund' drin.« Was? denk' ich mir und geh' in den Salon, da ist's aber dunkel, und dann ins rote Zimmer. – Da sitzt er richtig auf dem Diwan, mit dem Überzieher, und klopft mit dem Spazierstock auf dem Boden herum. Er schaut auf, wie ich hineinkomme, und fragt: »Woher denn, mein Fräulein?« – Ganz ruhig. – Ich erwidere darauf, der Wahrheit gemäß, denn zum Lügen war ja kein Grund: »Nachdem du mir geschrieben hast, daß du nicht kommst, hab' ich mir einen Wagen genommen und bin rund um den Ring gefahren, weil's so schön war.« – »So«, sagt er, steht auf, und immer noch mit dem Überzieher, spaziert er im Zimmer hin und her, ohne mich anzuschauen. – »Was hast denn?« frage ich. – Keine Antwort. Ich laß ihn stehn und geh' in den Salon und hör' ihn noch alleweil drin auf und ab laufen. Ich geb' der Lina meinen Mantel und schick' sie um Zigaretten, weil mir meine ausgegangen sind, und gehe wieder zum Emil hinein, weil's mir schließlich zu dumm war. »Lieber Emil«, sage ich, »das vertrag 'ich nicht. Wenn's dir nicht recht ist, daß ich spazierenfahr', so sag's grad heraus, liegt mir sowieso nichts daran. Im übrigen, wenn du mir schreibst, daß du nicht kommst, so hab' ich ja nicht die Verpflichtung, mich ins Zimmer einzusperren und Trübsal zu blasen. Da schauet' ich gut aus, jetzt, wo ich das dreimal in der Woche erleben kann«, und so weiter. – Jetzt fängt er plötzlich zu reden an, bleibt mitten im Zimmer stehen und kreuzt die Hände hinterm Überzieher, so daß das Spazierstaberl über seinem Kopf in die Luft schaut. »Du hast recht«, sagt er, »es kann nicht so weitergehen, und ich kann es wirklich nicht über mich nehmen, von dir zu verlangen, daß du drei Tage in jeder Woche allein zu Hause bleibst; ich sehe das ein!«

Aha, denk' ich mir und frag': »Also, was willst du, und warum schneid'st du ein Gesicht, und warum kommst du, wenn du mir abschreibst, und warum schreibst du mir ab, wenn du dann doch kommst?« Darauf sagt er: »Es war eine Zeit, Pepi, wo du sehr glücklich warst, wenn ich unerwartet gekommen bin – das ist nun freilich vorbei.« – Ich mach' drauf einen Schnabel. – Er setzt fort: »Das ist der Lauf der Welt, ich merke es schon lange, und wenn ich nicht wüßte, daß es dich sehr wenig kränkt, würde ich dir wahrscheinlich seltener absagen. Aber ich vermute, daß du mich nicht allzuschwer entbehrst.« – So ungefähr war's, und ich[179] weiß nur, daß ich darauf gesagt hab': »Nachlaufen werd' ich dir nicht.« – »Das verlange ich auch nicht«, meinte er, »im Gegenteil.« – Nun war's eigentlich beinah heraus, und ich sage: »Im Gegenteil? Das heißt wohl, es ist dir recht angenehm, daß ich dir nicht nachlaufe?« – Jetzt macht er eine ungeduldige Bewegung und stellt sich zum Fenster hin, mit dem Rücken zu mir. Dann murmelt er: »Verdreh mir doch nicht die Wörter im Mund.« Auf das hin stell' ich mich ruhig zu ihm und sage: »Ach, sag's lieber grad heraus, was du mir mitzuteilen hast – es hat ja sicher seinen Grund, daß du mir zuerst abschreibst, dann doch heraufkommst und jetzt so zuwider bist!« Wie ich so neben ihm steh', nimmt er plötzlich meinen Kopf zwischen die Hände und küßt mich auf die Stirn; alles beim Fenster, aber die Rouletten waren zu. Er küßt mich einmal und noch einmal und wieder und schließlich sehr, sehr lang. Ich rühr' mich nicht, laß es ruhig geschehen und sag' nur leise, während er mich noch immer küßt: »Du kommst heute, mir adieu sagen?« Da läßt er mich los. »Was ist das für eine Idee«, fragt er mit einem gezwungenen Lächeln. Ich nehme seine beiden Hände und sage: »So sei doch froh, daß ich dir's so leicht mache. Du hättest es nicht bald so gut treffen können!« – »Ja, freilich«, platzt er heraus, »weil du selber froh darüber bist, und weil du mich selber los sein möchtest.« Und jetzt fängt er an, mir Vorwürfe zu machen, wie er schon lang merkt, daß ich ihn eigentlich nicht lieb hab', und meine Zärtlichkeit ist eine Komödie, und was weiß ich noch! Und es hätte nicht so kommen müssen, durchaus nicht, aber ein Mann merkt das schon, und es ist schließlich kein Wunder, wenn man dann noch von anderer Seite gedrängt wird, daß man sich nach einer wahren Liebe sehnt, und so fort. – Ich war in einer Tour die Ruhige. »Du hast ja ganz recht«, sag' ich, »aber ich glaube nicht, daß ich die Schuld trage, und wahrscheinlich hast du sie auch nicht, sondern es hat ja schließlich so kommen müssen, und das liegt in den Verhältnissen. Ich kann dir nur sagen, daß ich dich immer sehr lieb gehabt hab' und dir wünsche, daß du ein Wesen findest, das dich so lieb hat, wie ich dich gehabt hab', und das dich glücklich macht« – und so weiter, was man in solchen Fällen sagt, aber ich hab' in dem Moment gespürt, daß ich ihn wirklich sehr gern gehabt hab' und daß so ein Abschied immer was Rührendes hat, auch wenn man sich schon lange darauf freut. Dann haben wir uns auf den Diwan gesetzt, und er zieht endlich den Überzieher aus, und wir kommen so recht ins Plaudern. Und ich erzähle ihm, wie ich ihm treu gewesen bin die[180] ganzen zwei Jahr', und wie schön es überhaupt war, und er sagt, er wird mir sein Leben lang dankbar sein für alle Güte und Zärtlichkeit, die ich ihm entgegengebracht habe, und es ist eigentlich gar nicht wahr, daß man jemals aufhört, jemanden zu lieben, und es sind eben wirklich nur die Verhältnisse, und er wird für alle Fälle mein Freund bleiben, und eben als wahrer Freund ist er aufrichtig und muß mir adieu sagen. Und zieht mich an sich und streichelt mir die Haare und fängt wieder an mich zu küssen, aber nicht nur die Stirne. Ich muß Dir gestehen, ich hab' sogar ein bißchen geweint, meine gute Helene, Du wirst es begreifen, nicht wahr?

Und so ist es schließlich zwölf Uhr geworden vor lauter Abschiednehmen, und rührend war's, wie er später noch vor dem Diwan gekniet ist und mir die Hand geküßt hat. Das ist meine letzte Erinnerung an ihn, denn während dem Handküssen bin ich eingeschlafen, und wie ich mitten in der Nacht aufwache, ist die Lampe heruntergedreht, und er ist weg – auf und davon.

Na, und seither hab' ich ihn nicht gesehen und hab' nichts gehört, und die Geschicht' ist aus. – Was sagst Du?? Und wenn Du mich fragst, was ich mach' oder machen will, ich weiß selber nicht. – Vorläufig bin ich ganz zufrieden. Ich ruhe mich aus, hab' einen famosen Schlaf, rauch' meine zwanzig Zigaretten im Tag und denk' mir: Wenn's nur immer so bliebe! Es ist eben alles nur Gewohnheit. Zwar sind es erst acht Tage, aber wenn's nach mir geht, leb' ich den ganzen Sommer so. Ich lese jetzt den ganzen Tag Romane, neulich einen, den empfehle ich Dir wirklich an: Da steht etwas, was ich mir schon lange denk', nämlich, daß eigentlich wir die anständigen Frauen sind. Ja, wir sind gar nicht weniger wie die andern, steht in dem Roman, wir sind mehr, weil wir natürlich sind, und er beweist's auch in dem Roman. Du mußt ihn lesen, wart, ich laß ihn Dir von der Lina einpacken und schick' ihn Dir.

Jetzt bin ich neugierig, ob Du mir einen so langen Brief schreiben wirst! Wie verbringt Ihr denn eigentlich Eure Zeit? Fleißig im Theater? Bist Du schön brav und kokettierst nicht viel mit den Herren Parisern?

Was, meine gute Helene, wer uns das prophezeit hätte! Gott, wenn ich so denk', die erste Zeit auf der Wieden, wie ich in allem Ernst zum Theater gegangen bin, weil ich mir gedacht hab', die fünfzig Gulden monatlich kann ich gut brauchen! Und wie mich der Anton alle Abend abgeholt hat, und wir sind in ein Wirtshaus[181] gegangen und haben einen Rostbraten mit gestürzten Erdäpfeln gegessen! Meiner Mutter, wonach Du Dich erkundigst, geht es übrigens sehr gut, sie hat mich auch unter den letzten acht Tagen einmal besucht, und sie läßt Dich grüßen. Aber jetzt ist's wirklich genug, glaub' ich, und ich bitte freundlichst um eine ebensolche Antwort. Grüß den Deinigen!

Seid Ihr schon mit Eueren Sommerplänen im reinen? Und sei so gut und mach' nur keine Unvorsichtigkeiten. Ich habe so eine Ahnung: Du bist auf einem guten Wege, das heißt, Du könntest eine Frau Gemahlin werden. Also, spar Dir eventuelle schöne Pariser auf später auf. Oder auch gar nicht.

Eingebildet brauchst Du aber nicht zu werden, wenn er Dich heiratet, wirst in dem Roman schon lesen, daß Du dann eigentlich viel weniger bist als früher.

Also nochmals Gruß und Kuß. Deine alte

Josefine

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 1, Frankfurt a.M. 1961, S. 178-182.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon