(XII.)

[293] An Hahns und Oetingers Beispielen, auch aus Reizens Lebensbeschreibungen einiger Wiedergebornen lernt' ich erst die Würde und Hoheit des Christen kennen. Der irrdische Mensch sieht die Hoheit und Schönheit[293] nur halb, oder gar nicht, zu der die Christen im Verborgnen aufwachsen. – Wie groß sind nun Christen in meinen Augen! Sie hoffen in den trostlosesten Lagen; sie glauben, wo sie nicht sehen; sie dulden unverschuldete Leiden; sie kämpfen ungesehene, unbesungene, ungekrönte Kämpfe; sie stüzen die Welt mit betenden Händen, und befruchten die Erde mit ihren Tränen; sie strahlen Licht aus, und die Finsternis begreift sie nicht; sie thun Gutes, und werden mit Schmach und Verachtung belohnt; sie tragen das heilige unsichtbare Feuer des Geistes Gottes in sich, und werden Dummköpfe gescholten; sie sind die Bewunderung der Engel, und ein Scheusal der Welt; sie sind unausgeborne Götter; sie sterben tausend Tode, und erringen zehntausend Leben; sie tragen die heiligen Spuren ihrer künftigen Hoheit an sich, und werden in allem verkannt; sie steigen von Sprosse zu Sprosse – durch Demut, Glauben, Liebe, Hofnung, Arbeit, Gebet, Tränen, Tod und[294] Verwesung – himmelan, bis die Hütte fällt, und der Gottessohn da steht!! – O wie langweilig ist's, wenn man einen Christen nach Hollazens und seiner Zeitgenossen Art zergliedert! Sie zeigen seine Tugenden, wie Lichtfleken nur einzeln; aber schöner, himmlischer, göttlicher ist die in Ein ganzes, großes Lichtbild zusammengeronnene Gestalt selbst!


Die heilige Paßionszeit hab ich in diesem Jahre auf eine selige Art gefeirt. Da ich gerade in dieser Zeit mein vierzigstes Lebensjahr erreichte; so fand ich tausendfachen Anlas, Gott für die Wunder zu preisen, wodurch er sich an meinem Leib und an meiner Seele auf eine so ausnehmende Weise verherrlichte. – Ich dachte, wie manche nüzliche Menschen, wie viele brauchbare große Gelehrte, z.B. Baumgarten, Töllner, Meinhard, Ludwig, hat Er im vierzigsten Jahre ihres Lebens himweggenommen;[295] welche Hofnungen wurden mit den Cronek, Brawe, Abbt, Michaelis, Hölty, Hartmann, Willamov, verscharrt! – Und du unnüzer, meist schädlicher Mensch lebst noch? Bei all deinen Ausschweifungen, bei all dieser tiefgestürzten Traurigkeit, bei all diesen wiederholten Ankündigungen des Todes lebst du noch! – Gottes Gnade lehrte mich den großen Wert des Lebens stets mehr und mehr kennen. Ich bete nun nicht mehr um meinen Tod; sondern danke vielmehr dem Erhalter meines Lebens für jede Stunde, die Er den kostbaren Tagen meiner Heimsuchung beilegt. Wachsen können in der Geduld, Verläugnung, im Glauben, der Lieb' und Hofnung; seine Einsichten in göttliche Dinge, sonderlich ins große Geheimnis des Vorsazes Gottes mit jedem Tag verstärken, und die Entwiklung seiner innern Gestalt gleichsam fühlen können: – o das ist Wohlthat, das ist Gnade, die unsern wärmsten Dank verdient. – Ja Mensch, bedenke dich wohl,[296] eh du dein Todenlied – gemeiniglich der Ausdruk einer frommen Ungeduld – anstimmst: »Ich bin müde mehr zu leben!« – Glaube nicht, daß es Gott angenehm sei, wenn du im Drange der Leiden dein Gesangbuch haschest, und heulend singst: »Nur Flügel her, dem Himmel zu!« – du mußt vorher sagen können: »es ist vollbracht!« eh du Gott mit solcher grundlosen Zuversicht deinen Geist empfehlen willst.

Die ganze heilige Leidenszeit hindurch empfand ich es so recht, was es heisse, mit Christo zu leiden. Ich hatte mit äussern und innern Versuchungen zu kämpfen. Mein Kommandant warf in der Anwandlung seines so häufigen üblen Humors wie eine Ungnade auf mich, weil ich ihm in der Kirche nicht andächtig und eifrig genug schien. Ob mich ungleich mein Herz wegen dieser Beschuldigung rechtfertigte; so warf mir doch mein Gewissen mehr als einmal den noch so unvollkommenen Zustand meiner Seele vor.[297] Ich war einsam und ohne Trost; ich floh also zur stillen Betrachtung des Leidens Jesu, und lernte meinem Erlöser seine Aengsten, die Schande seiner Verwerfung den Schmerz der zerfleischenden Geißel, jeden Riz der Dornenkrone, jeden Nervenzerreissenden Nagel durch Händ' und Füße, nach dem kleinen Maase meiner Leidenskräfte nachempfinden. – Brust und Zahnschmerzen vollendeten meine Marterzeit; – aber der Tag der Auferstehung Jesu begann, und ich sollte mit trölichem Herzen den Triumf meines Herrn, und der ganzen Menschheit feiern. Ich erhielt an diesem Tage einen gefühlvollen Brief von meiner Gattin, die Erlaubnis in der Kirche die Orgel: zu spielen, und Abends die Freiheit, mit dem Kommandanten um den Wall herum spazieren zu gehen ... Nun hatt' ich über achthundert Tage, nicht das Wehen der freien Gotteslüfte, nicht den erquikenden Sonnenstral empfunden; nicht gesehen die schöne Natur, und die lebende wimmelnde Welt[298] in den Höhen der Schöpfung, und in den Tiefen der Schöpfung. Und o, nun sah ich sie wieder, nach so langen Leiden, nach so hofnungslosen Qualen – die schöne Welt von meinem Walle herab wieder, – weit und breit, hoch und tief im Schimmer des werdenden Frühlings vor mir liegen. Zwar ist die Natur dem Gefangenen minder schön, denn sie scheint ihm beinahe eine Gebundene zu seyn, die in goldnen Fesseln schmachtet: aber doch gab sie mir einige Mutterblike, die wie zärtliches Mitleid, erheiternden Trost in mein Herz ausgoßen.

Man sieht vom Walle des Asbergs ein weites siebenstündiges Thal von Bergen eingefaßt, in mannichfaltiger Schönheit vor sich liegen; – Felder, Wiesen, Ströme, Weinberge, Gärten, Städte, Dörfer und Schlösser schmüken dies Thal, und bilden das schönste, musivische Gemälde, das man sehen kann. Die treflichen Anstalten, die der Kommandant seit seinem Hiersein getroffen,[299] geben auch dem Walle, und der ganzen Veste ein ungemein schönes Ansehen. Ueberall herrscht der Geist der strengsten Ordnung, die selbst Kleinigkeiten nicht aus der Acht läßt, um dem Ganzen seiner Vollkommenheit zu geben. Man sah es am Beispiele dieses Mannes, daß man Christ seyn könne, ohne dadurch seinen bürgerlichen Pflichten etwas zu entziehen. Ja, das Christentum gibt vielmehr allen unsern Handlungen, Anstalten, Verordnungen einen gewissen Geist, den sie ohne dies nicht haben können. Gestärkt an Leib und Seele kam ich in mein Klagezimmer zurük, und dankte Gott für die Wunder dieses Tages. – »Ach!« seufzt' ich, »du hast mir alles genommen, gütiger Vater! um es mir stükweise wieder zu geben, und mir Leichtsinnigen den Wert deiner Gaben fühlbarer zu machen. – Ich las hierauf das schöne Lied, womit mich meine Gattin beschenkt hatte. Hier ist es für die, so der Empfindung der ehlichen Liede noch einen Wert beilegen, wiewohl die Blume dieser Liebe so feinen Geruchs ist,[300] daß sie in der dritten Hand gemeiniglich zu verduften pflegt:«


* * *


»Ausgeweint in trüben Stunden

Hat mein Auge seine Kraft,

Ruh und Freuden sind verschwunden,

Wenn sie Gott nicht wieder schaft.«


»Hin in meine Klagekammer

Folgt mein banges Leiden nach,

Einsam such' ich meinem Jammer

Lindrung, die so lang' gebrach.«


»Fern in Schauerfinsternissen

Seufzest du dein Leben hin,

Weg aus deinem Arm gerissen

Fühl' ich kaum noch, daß ich bin.«


»Holder Frühling, allen Dingen,

Die dich fühlen, bist du gut:

Wirst du mir auch Wonne bringen?

Neu erweken meinen Mut?«


»Wirst du nicht, mein Kummer, enden?

Enden nicht, o Herzensdrang?

Wirst du mir nicht Tröstung fenden,

Gott, auf meinem Lebensgang?«


»Ja du bist der Gott der Liebe,

Liebe war dein erstes Thun,

Du belohnst die reinen Triebe,

Die in unserm Busen ruhn.«[301]


»Nun so steh' in düstern Tagen

Meinem liebsten Freunde bei;

Laß mich nicht vergebens klagen,

Hör mein jammerndes Geschrei.«


»Schik im Lauf von vierzig Jahren

Meinem Besten Freude zu,

Laß ihn deine Lieb' erfahren,

Ström in seine Seele Ruh.«


»Schau, o Gott, auf uns hernieder,

Tröstungen im Vaterblik, –

Gieß auf unsre Wege wieder

Segen, Frieden, Heil und Glük.«


»O dann rinnen Dankes Zähren

Auf mein glühend Herz herab;

Ewig soll mein Preis dann währen

Ihm, der mir den Lieben gab.«


Antwort am heiligen Osterfeste.

»Und du klagst noch immer, Theure,

Weinest deine Blike stumpf?

Und ich stehe da und feire

Jauchzend meines Herrn Triumf?[302]


Stehe da auf meinem Walle

Voll von Gott und seinem Lob,

Der mich nach so tiefem Falle

Wieder aus dem Staub' erhob.«


»Seh' auf Hügeln, seh' in Thalen

Die Natur im Feierkleid!

Seh' die Erde wiederstrahlen

Des Erlösers Herrlichkeit.«


»Seh' in trunkenem Entzüken

Engel auf die Frühlingsflur

Aus den jungen Wolken bliken,

Und belächeln die Natur.«


»Hör sie singen: Mensch, wie diese

Bäume, wie der Rosenstrauch,

Wie das Blümchen deiner Wiese,

Freu dich! so erwachst du auch!«


»Und du weinst noch? weine nimmer,

Beste, lüfte deine Brust;

Dieser hohen Hofnung Schimmer

Füllt uns ja mit Himmelsluft.«


»Geh hinaus, und zieh die Düfte

Jedes Blutenzweigs in dich,

Denn der Wohlgeruch der Lüfte

Schwimmt, und düftet auch um mich.«


»Hörst du Nachtigallen schlagen?

O sie schlagen ja auch mir!

Und die Turteltauben tragen

Girrend mir dein Leiden für.«[303]


»Immer blik' auf Veilchen nieder,

Immer küsse deinen Straus;

Denn die Blümlein düften wieder

Balsam deinem Gatten aus.«


»Ehre, nichts als Gottes Ehre

Klopft mein Herz mit jedem Schlag;

O, ich bin so froh, als wäre

Heut' mein zweiter Hochzeittag!«


»Drum so spare deine Zähren,

Bis du dich mit mir vereinst;

Welcher Engel wird dir's wehren,

Wenn du dann vor Wonne weinst?«


»Ueber'm Grab sollst du mich finden,

Nach durchkämpfter Lebenspein,

Ohne Krankheit, ohne Sünden,

Fessellos und – ewig dein!«


Ich bin nach diesem noch ein paarmal ausgegangen, habe mit Menschen gesprochen, und nach so langer Zeit wieder das Klavier gespielt. Wie krank war meine Fantasie! wie gelähmt meine Faust! Und doch erhielt ich großen Beifall. – Ich weiß nicht, warum ich unruhig wurde, als ich wieder in meine Zelle zurükkam. Der Geist Jesu[304] schien mich zu bestrafen, daß die Eitelkeit Reiz genug hatte, meine Seele nur auf Augenblike ins Aeussere zu jagen; denn der Geist Jesu ist eifersüchtig auf Seelen, die er einmal ergriffen hat. Ich hatte nicht eher Ruhe, als bis ich mich durch Tränen und wiederholte Gelübde, ewig meines Herrn zu seyn, von dem Staube wieder los machte, womit mich der Geschmak am Eiteln beflekt hatte.19 Einer meiner grösten Fehler ist, daß meine Seele so gerne vom Lichtpunkte der Einfalt hinausstreift auf die Grenzlinien der Vielfalt, sich darüber vergißt, und manches spricht und thut, was hernach in den Stunden der Einsamkeit mein Gewissen misbilliget. Einheitsgefühl ist das Gottähnliche im Menschen; wer dies hat, der bewahr' es sorgfältig: er blike hinaus auf die durchkreuzenden Lichtstralen der Mannigfaltigkeit;[305] aber er lasse sich ja nicht verleiten, diesen seinen Ruhepunkt zu verlassen, wo er alles in Einem, und Eins in allem besizt. Wer viel sehen, viel genießen, viel hören, vieles auf einmal verschlingen will, der hascht nach Luft. Dieses bei mir so oft verwischte Einfaltsgefühl hoff' ich in Christo allein wieder zu finden. Seine ganze Zucht geht dahin, mich von allem nach und nach loszumachen, um mich alsdann ganz mit seinem Geiste füllen zu können. Daher leg' ich ein Erbauungsbuch nach dem andern auf die Seite, und ich sehe den Augenblik sehr nahe, wo mir die Bibel allein, und mit ihr alles gelassen wird, was mein Geist zu seinem Unterricht und Trost bedarf. –

Schwer wird mir's, die Anwandlungen von Fleischesträgheit zu bekämpfen, da ich nicht in der Gemeinschaft irgend einer wahren Christenversammlung lebe, wo uns das Beispiel wekt und treibt. Ich muß meine Reise einsam, und ohne Gefährten fortsezen, und[306] das macht lange Weile, und reizt mich oft, auszuruhen, wo kein Ruheplaz für einen thätigen Christen seyn sollte. Alles ist in der Geisterwelt wie in der Körperwelt, in beständiger Strebsamkeit, im rastlosen Aufflug zum Ziele. Du darfst nur Augenblike ruhen, und ein andrer, den du noch nicht kennst, ist dir vorgeflogen, und strekt den Arm nach der Palme aus, die dein war. Mein Ziel ist die Hofnung, im Reich des Messias angenommen, und auf einen Posten gestellt zu werden, von dem ich etwas zum Wohl des Ganzen, vielleicht auch zur frühern Vollendung derienigen meiner Lieben beitragen kann, die mit einem sehr schwachen Geistesanfang in jene Welt hinüber kommen. Ich weiß, daß es mir unaussprechlich wohl seyn wird, wenn ich dies Ziel erreiche, und da alles freies Geschenk der Gnade Gottes ist; so ist es gewiß nicht Vermessenheit, eine solche Seligkeit zu hoffen. Daher bitt' ich Gott unaufhörlich, daß er mir nur den Glauben an Jesum mehre und bewahre. Nichts ist[307] schwerer, als dieser Glaube, denn er ist ein Alleiniges Geschenk der Erbarmung Gottes, und wie Paulus sagt, »nicht eines jeden Sache.« Man kann vollkommen von der Lehre Jesu überzeugt seyn, man kann auch Jesum seinen Herrn nennen, und im Herzen stößt doch noch ein Widerspruch an den andern. Wir sind nemlich mit der Wahl Gottes nicht recht zufrieden; es ist uns nicht recht, daß Jesus unser Herr ist; wir glauben wohl an sein Königreich, aber wir haben keinen Geschmak an seinen Geistesfreuden und Uebungen. Nur anhaltendes Gebet, nur Studium des Karakters Jesu, und der Beschaffenheit seines Reichs, können uns stufenweise dahin bringen, daß wir Ekel an der Welt und Geschmak am Himmel bekommen, daß wir uns immer mehr in himmlische Einfalt versenken, und endlich aus vollem Herzen in den Triumfgesang des Himmels, der Erde, der Todtengefilde einstimmen: »Das Lamm ist würdig zu nehmen und aufzuthun das Buch mit sieben Sigeln,[308] denn es hat sich schlachten lassen, und uns erkauft mit seinem Blute!« –

Der Geist Jesu ist, wie ich es immer mehr empfinde, vom Geiste Gottes merklich verschieden. Es ist modificirter, durch die verklärte oder himmlische Menschheit Christi bestimmter, individualisirter, auf einen besondern Zwek arbeitender, konzentrirter Gottesgeist. Der Geist Gottes arbeitet mehr ins allgemeine; der Geist Jesu ins besondere. Der Geist bekommt gleichsam einen Geschmak oder ein Gefährt von dem Gefässe, in welches er ausgegossen wird; daher bleibt Mannigfaltigkeit in der Geisterwelt, wie in der Körperwelt ... In diese Gedanken und sonderlich in den erfreuenden Gedanken der Allwirksamkeit und Allgegenwart Gottes hüll' ich mich ein, wenn Kummer meine Seele trübt. Was trauerst du, denk' ich oft; Gott ist ja überall, im Sonnenstral und in der Staubwolke, im freien ungemessnen Universum, und hier in[309] deinem engen, dunkeln Gefängnis! – Ich fühl' ihn in mir, ich bemerke seinen Finger in der Lenkung der kleinsten Begebenheiten um mich her; ich weiß, da ich in seinem Strahlenkreise athme, bete, weine, ringe; und daß ich nicht aus diesem Kreise herausfallen werde, auch wenn ich sterbe.


Der Herr ist überall! – O fühl es meine Seele!

Anbetend fühl' es – Gott ist überall!

Im lichten Raum, in deiner Kerkerhöhle!

Im Staubgewölk! im Sonnenstral!


Wo Strahlenbilder stehn und ihre Händ' erheben,

Gleich schwesterlichen Flammen; wo ein Geist

Auf Sonnen denkt; wo Menschenseelen schweben!

Wo dich die Welt der Thiere preist;


Wo Berge stehn, in Thälern und in Schlünden

Wohin kein Aug des Erdenbürgers sah.

Flög' ich gen Himmel, du bist da zu finden,

Sänk' ich zur Hölle, du bist da!


Auch da bist du, wo ich oft bangsam ringe

In dieser Gruft, so todt, so Menschenleer!

Du hörst mich, wenn ich klag' und bet' und singe;

Ich fühl' dein Säuseln um mich her.


Und wenn ich sterbe; Vater in der Höhe –

Nicht wahr? so bist du auch bei mir!

Und wenn ich wieder auferstehe;

So aufersteh' ich dir![310]


Die oft wundervollen Gebetserhörungen stärkten mich täglich mehr in meinem Glauben, und Gott hat es bereits mit mir dahin gebracht, daß ich ihn für meine Leiden preise, daß ich oft im Kerker so freudig bin, als ich es niemals ausser demselben war, und daß ich meinen Willen dem durch Weisheit und Liebe gelenkten Willen meines Vaters in allem unterwerfe. Ich glaube oft nicht anders, als daß ich im Kerker sterben werde. So schreklich mir dies anfangs vorkam; so ruhig bin ich nun bei diesem Gedanken. Bayle hielt es für ein großes Glük, ungesehen und unbeklagt sterben zu können. Was würd' es mich helfen, unter dem Wimmern meiner Gattin und Kinder hinzuschlummern, und meine Seele noch lange nach dem Tode mit den Eindrüken der Todtenklage zu ängstigen, die um mein Sterbebett erscholl. Ein Unteroffizier, der mir mit rauher Hand über's sterbende Angesicht fährt, und mir die Augen mit einem alten christlichen Seufzer zudrükt, ist mir[311] lieber, als der zitternde Finger eines lieben Weibes, die ich mit Widerwillen zurüklasse. –

Inzwischen fliessen meine Tage so einförmig hin, daß ich aufhöre, die Welt zu interessiren, weil ich aufhörte, zu stürmen. Ich stehe früh auf, ich bete, lese, denke, weine, freue mich, segne die Menschen, die ich durch mein Eisengitter sehe, esse und trinke wenig, flistre mit furchtsamer Stimme durch die Wand zu meinem trauten Freunde Scheidlin hinüber, habe der Welt gute Nacht gegeben, hoffe nichts mehr von ihr, und erwarte die Entscheidung meines Schikfals aus den Händen Gottes. Meine Scherzhaftigkeit ist weggeschwunden, und der Ernst an ihre Stelle getreten. Mein gröster Kummer ist das Gefühl meiner noch so großen Gebrechen, und mein ganzes jeziges Leben besteht in einem Hinschmachten nach Vollendung.

Die Langweile, unter deren schwerem[312] Zepter ich manche qualvolle Stunde hinbrütete, tirannisirt mich immer weniger, je mehr ich lerne, über die gemeinsten Gegenstände lehrreiche Betrachtungen anzustellen. Die plaudernde Schwalbe auf meiner Dachrinne, die gluchzende Henne vor meinem Fenster, und die pipenden Küchlein um sie her; die Spinne, die mit ihrem wundervollen Gewebe die Quadrate meines Gitters verwebt; meine freundliche Nachbarin die Linde, die mir zulieb ihr grünes, luftiges, augenstärkendes Sommerkleid wieder anzieht, und süße Düfte verhaucht; mein Freund, der neben mir seinen neunzeh'njährigen Kummer im geselligen Tabaksrauche durchs Eisengitter hinaus zu verdampfen scheint; die schweigende Miene des Feldwebels, der mir das Essen zubietet; jedes Klirren meiner Eisenriegel, jeder Seufzer der Gefangenen neben mir, jedes Spiel der frölichen Jugend vor meinem Fenster; jedes ehrerbietige Verstummen des Soldaten vor dem Donner des Befehlhabers, und jeder Wirbel der lermenden[313] Trommel, beut mir zuweilen – denn meine Seele springt oft von den Schrauben und ist alsdann schlaff und ohne Ton – Stof zur nüzlichsten Betrachtung.

Da wird ein Soldat durch die Spißruthen geiagt, weil er seinem Kameraden einen Siebzehner stahl; – und du zürnst auf Gott, wenn er Kleinigkeiten zu ahnden droht? die Flamme, die schon oft Städte verwüstete, war zuerst ein kleiner Funken. Weh dem Gesezgeber, der Funken für nichts achtet! – Ein Galliot läuft einem Mädchen in einen Winkel nach: – so gibt's denn auch Frevler, die die Kutte nicht bändigt? – Ein armer Schulmeister schikt mir aus Liebe, mit Vergünstigung des Kommandanten Erfrischungen, und nikt mir von der Gasse herauf Mitleiden und Trost zu: – ich weine! denn eben nicht die Größe der Wohlthat, sondern die Herzlichkeit, womit man sie erteilt, rührt mein Innerstes bis zu Tränen. –[314] Der Pfeiffer bläst unter der Linde einen deutschen Tanz; und alles wird Pantomime. Das Kind hüpft auf den Armen der Mutter, der Knabe ist ganz Pantin, – vom Dreiachteltakt, wie vom Faden gezogen, zukt er rechts und links, das Mädchen nimmt ihn in Arm, und wirbelt mit ihm herum. – Sollte der Tanz verwerflich seyn, da er doch unsrer Natur so angemessen ist? Nicht doch! auch das Tanzen hat seine Zeit.

Eine gaffende Menge von Fremden, die zu den Gittern der Gefangnen hinaufstarren, und nach der Ursache ihrer Gefangenschaft fragen. – – Gott segne euch, ihr lieben Freunde, wenn ihr Mitleid mit uns Armen habt, und hier von unsern Gittern gen Himmel schwört: »Daß ihr zeitlichen und ewigen Banden durch die genauste Befolgung eurer Pflichten zu entfliehen trachten wollt!«[315]

Ein Bauer führt Abends seine Pferde ermüdet in den Stall, der gerad unter mir liegt ... Auch dieser müde alte Gaul wird einst Theil an den Freuden des Menschen nehmen, da er jezt seinen Fluch tragen hilft. – Weine nicht Irokese, traure nicht Araber, du wirst deinen treuen Hund, und du dein gutes Pferd wieder finden.

Einige Soldaten singen das Abendlied: »Nun sich der Tag geendet hat.« Der zärtlich-schmachtende rührende Amollton, die andächtigen Empfindungen des Liedes öffnen mein Herz, und ein Vorgefühl der Wonne durchzittert mich: wenn ich einst mit harmonischen Freunden in meiner Lauberhütte size, und ein Lied des Himmels – herzlicher einfältiger anstimme, als der Nachtgesang war, den Pater Ceva20 die Hirten vor dem Stalle des Kindes Jesu singen läßt.[316]

Die Nacht sinkt vom Himmel herunter. Die Sterne Gottes gehen auf; ich sehe den Stern an der Brust der Kassopeia grad über mir leuchten, und – »in meines Vaters Hause sind der Wohnungen viele!« – Dieser Gedanke lüpft mich empor, als hätt' ich auch schon eine Stätte in meines Vaters Hause ...

Zu solchen Betrachtungen geben mir die täglichen Ereignisse in meiner dumpfen Sphäre Anlas, und ich kann oft mit dem H. Antonius sagen: »Kann der alleine seyn, der mit Gott allein ist?« O nein, sein Gespräch ist Gott, sein Zeitvertreib Gott, seine Ruhe Gott, seine Freude und sein Trost Gott, – sein Alles der allgegenwärtige Gott!!

Und so nehme ich dann von meinen Lesern Abschied – traurig, als müßt' ich eben sterben ... Wenn dir meine Schreibart, lieber Leser, nicht Leben genug hatte; so denk' an meine Umstände, laß dir's vom[317] Herausgeber21 sagen, unter welchem Zittern und Zagen ich dies mein Leben niederschrieb, niederblutete; denn bis diese Stunde sind mir noch alle Schreibmaterialien verboten. Freilich wirst du in meinem Vortrage Kerkerdampf und Todtengeruch wittern; aber ekelt's der guten Seele an ihrem treuen sterbenden Freunde, wenn er die Hände, feucht von Todesschweis, nach ihr ausstrekt, und den bangen Abschied hervorröchelt. Ich bat oft meinen Wiz, mir eine Rose zu[318] brechen, und er pflükte mir einen Rosmarinstengel vom Todeshügel – betropft von Tränen der am Grabe zurükgelassnen Lieben ... So lebt denn wohl, meine Freunde, die Blut oder gleiche Herzensstimmung mit mir verband! Gott lohn's euch, daß ihr mich geliebt habt; daß ihr mir so viele Fehler verziehen, daß ihr über mein Schiksal Tränen vergossen! – Ja, Gott lohn' es euch, und lehr' euch weise leben, und freudig sterben!

O Vaterland, Gott weiß, ich habe dich geliebt! Noch sind sie nicht alle todt deine freien edlen Biederseelen; aber sie achzen in den Fesseln des Despotismus; sie jammern über das Verderben ihrer Kinder; sie sezen sich wie Elias unter die Wachholderstaude, und sprechen: »Es ist genug! so nimm, Herr, meine Seele zu dir!« – Gott helfe dir, wenn dir zu helfen ist. Wenn ich versammelt werde zu meinem Volke – denn auch nach dem Tode und in künftigen Ewigkeiten hoff' ich euer Mitgenosse zu seyn, ihr meine deutschen Brüder, weil die Nazionen beieinander[319] bleiben; – so will ich dort noch flehen für dein und deiner Brüder Heil, – für all die unzählichen Freuden, die mir deine Sprache, deine Sitten, deine großen Köpfe, deine weisen und frommen Männer, deine sanften einfältigen Weiberseelen, deine Kinder, deine Speisen, deine labenden Getränke, deine schöne Gegenden, – deine Berge, deine Thäler, deine Flüsse, deine Luft, dein gemäßigter Himmel, deine Städte, deine Dörfer deine Gebäude, deine Gärten gemacht haben – – nimm meinen tausendfachen Tränendank! .. Und nun – und noch einige Spannen Erde von dir zu meinem Grabhügel: dann leb' ewig wohl!!

Sei mit meinem Vaterlande, Gott! sei mit deiner Gemeinde, Erlöser! sei mit allen wiederkehrenden Sündern, Geist der Gnaden!!


(am 819ten Tage meiner Gefangenschaft den 21sten April 1779.)


Ende des Zweiten Theils.

19

Ganz der lichtscheue, schriftwidrige, kränkelnde, und entmannende Ton der Pietisten!

d.H.

20

In seinem gefühlvollen Ewigkeit ahndenden »Jesus puer.«

21

Der Herausgeber kann hier nichts als wiederholen: daß mein Vater dies Leben seinem Mitgefangnen, dem ofterwähnten von Scheidlin, durch eine Wandrize unter dem Ofen diktirte. Er pflegte sich nach türkischem Brauch auf den Boden auf eine Matraze zu lagern: Nachbar Scheidlin bot ihm eine Pfeife durch die Rize, sezte sich sofort auf die bare Erde, und schrieb auf einem hölzernen Stuhle das Manuscript, das ich hier vor mir habe. Der verständige Leser fühlt wol, daß es sich in einer solchen Galeerenpositur unmöglich so schreiben lasse, wie in freier Luft, und ermißt von selbst, daß der Verfasser in diesem zweiten Theile vieles gestrichen, hinzugesezt, und abgeändert haben würde, was sich für den Sohn nicht ziemt, und oft ganz unmöglich ist.

Quelle:
Schubart, Christian Friedrich Daniel: Schubart’s Leben und Gesinnungen. Zweiter Theil, Stuttgart 1793, S. 293-320.
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