Märchen

[342] Es starb einmal ein Bäuerlein;

Sein Engel, hell, wie Sonnenschein,

Mit einem güldnen Stabe wies

Dies Bäuerlein zum Paradies.


Es ging an den bestimmten Ort

Auf einer Morgenröthe fort,

Kam an das Thor von Diamant

Und klopfte sittsam mit der Hand.


St. Peter hütete die Thür'

Und schrie: »Nun, wer ist wieder hier?«


»Ich bin ein armer Bauersmann,

Der auf der Erde nichts gethan,

Als seine Felder angebaut,

Mit einem Weibe sich getraut,

Die mir zum Stecken und zum Stab

Ein Dutzend derbe Buben gab.

In meinem Leben gab ich gern

Die Steuern meinem gnäd'gen Herrn;

Ich glaubte, was der Pfarrer sprach,

Kam treulich seinen Lehren nach

Und zahlt' ihn redlich, wie mich däucht,

Für seine Predigt, Bet' und Beicht.

Ich starb. Er salbte mich mit Oel;

Ein Engelein wies meine Seel'

Zu dir ins Paradies herauf:

O heil'ger Peter mach mir auf!«


Nun öffnete die Pforte sich,

St. Peter sprach: »Ich lobe dich;

Du guter Mann verdienst gewiß[343]

Ein Plätzchen in dem Paradies.

Du sollst's auch haben: aber heut,

Mein Bäuerlein, fehlt mir die Zeit.

Wir feiern heut ein großes Fest,

Das mich an dich nicht denken läßt.

Geh dort in jene Laube hin,

Gewölbt von himmlischem Jasmin,

Und warte, bis ich komme, da,

Beim Nektar und Ambrosia!«


Das Bäuerlein sprach: Habe Dank!

Setzt' sich auf eine Veilchenbank,

Und wartete, bis Peter rief;

Erhabne Stille herrschte tief.


Doch plötzlich sprang das goldne Thor,

Der ganze Himmel war Ein Chor;

Es schwammen süße Symphonie'n

Durch den entzückten Himmel hin;

Der Schatten eines Priesters schwebt'

Herauf, vom Lobesang erbebt'

Der Himmel: »Leuchte wie ein Stern,

Komm du Gesegneter des Herrn!«


Mit Abraham und Isaak saß

Der Selige zu Tisch und aß

Das erstemal Ambrosia;

Und Amen und Halleluja

Sang laut der Seraphimen Chor

Um des entzückten Priesters Ohr.

Und erst am Himmelsabend kam

St. Peter vor das Thor und nahm

Mit sich den armen Bauersmann,

Und wies ihm auch sein Plätzchen an.


Der Bauer faßte wieder Muth

Und sprach: »Herr Peter, sei so gut,

Und sag mir, warum war denn heut'

Im Himmel solche große Freud'?«[344]


»Sahst du's denn nicht, sagt Peter drauf,

Ein frommer Priester schwebt' herauf?

Drum hat ob seiner Seligkeit

Der Himmel solche große Freud.«


»So müssen,« fiel der Bauer ein,

»Im Himmel lauter Feste sein,

Weil's ja viel tausend Priester gibt,

Und jeder seinen Herrgott liebt?«


St. Peter lachte laut dazu,

Und sprach: »Du liebe Einfalt du!

Ich, der ich bald zweitausend Jahr,

Thürhüter in dem Himmel war,

Hab' vor den Pfaffen gute Ruh';

Doch solche Bauernkerls wie du,

Die kommen oft so häufig an,

Daß ich sie nimmer zählen kann.«


Dies Märchen hat Hans Sachs erdacht

Und es in Knittelvers gebracht;

Doch ärgert dich's, mein frommer Christ,

So denk', daß es ein Märchen ist!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 342-345.
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