Die Thränen

[255] Thränenbilder, sei gepriesen,

Für die Thränen, die so süß

Von den Wangen niederfließen,

Wie der Thau im Paradies.


Wenn die heiße Last der Qualen

Meine müde Seele drückt,

Und mein Aug' mit matten Strahlen

In den Staub des Elends blickt;


Ach, so macht die Silberquelle,

Strömend meinem Herzen Luft,

Und mein Aug', von Thränen helle,

Blickt hinauf durch Kerkerduft!


Und den Himmel seh' ich wieder;

Engel schauen, däucht es mich,

Gnadelächelnd auf mich nieder

Und mein Herz erleichtert sich.


Oft sah ich in Thränenbächen

Gottes Sonne schön und mild

Sich in tausend Strahlen brechen

Und des Regenbogens Bild.[255]


Ach, da denk' ich, Gottes Höhen

Siehst du schon wie Stephanus!

Siehst schon Jesum Christum stehen,

Giebst ihm schon den Trauungskuß.


Wann ich im Gefühl der Sünde

Eine Thräne weinen kann,

Und den Wonnetrost empfinde:

Jesus nimmt die Sünder an;


O wie leicht wird's da dem Herzen,

Wenn die Angst in Thränen schmelzt,

Das Gefühl gehäufter Schmerzen

Wird gleich Hügeln weggewälzt.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 255-256.
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