Theons Nachtgesang

[234] In eines Eichenwaldes schwärzester Nacht

Stand vor seines Geklüftes Eingang

Theon, der Siedler der Wüste.

Unsichtbar schwebten Geister des Himmels um ihn;

Da begann er seinen Nachtgesang:


»Groß bist du, Riesin Natur.

Deine Sohle ruht auf der Erde,

Dein Scheitel bestreift die Sterne!

Groß bist du, Riesin Natur!«


[234] Geister.


Groß ist der Riese des Himmels!

Er sprach: da sprang die Natur

Herauf aus des Undings Nacht,

Trat auf die Erd' und bestreifte die Sterne:

Groß ist Er allein, der Riese des Himmels!


Theon.


Groß bist du, Mutter Natur!

Unaussprechlich ist deiner Zöglinge Zahl!

Der Eichenwald und das Blumenbeet,

Das tanzende Irrlicht und der zuckende Stern

Ist dein Gebild.

Groß bist du, Mutter Natur.


Geister.


Groß bist du, Vater des Alls!

Du hobst den Cherub aus Flammen,

Aus blauem goldbeströmten Dufte den Engel,

Der Wesen Zahl faßt kein Endlicher nicht.

Groß bist du, Vater des Alls!


Theon.


Groß bist du, Mutter Natur!

Du greifst mit dem mächtigen Arme

In des Ozeans Tiefe;

Rührst sie auf, daß seine Wogen brüllen,

Und zornige Wellen das Riff schlagen.

Groß bist du, Mutter Natur.


Geister.


Groß bist du, Jehovah, alleine!

Du hältst den Ozean in hohler Hand,

Als wär's ein Wassertropfe. Vor dir

Sinkt die Tiefe tiefer.

Die Höh' erschrickt und beugt sich vor dir.

Groß bist du, Jehovah, alleine;


[235] Theon.


Was heult im Sturme?

Was winselt im Felsengeklüfte?

Spricht im Donner? fliegt im Blitze?

Was wühlt die Erd' auf und schüttelt

Städt' und Menschen und Hügel weg,

Wie der Pilger den Staub vom Gewande?

Bist du es nicht, Mutter Natur?

Ja, groß bist du, Mutter Natur!


Geister.


Kennst du Jehovah, des Himmels Donnerer?

Wollt' Er, so schrumpften die Himmel zusammen.

Wollt' Er, so stäubte die Erd' ins Chaos.

Und Riesin Natur faulte als Aas

In des Abyssus Schlunde.

Groß ist Jehovah, des Himmels Donnrer allein!


Theon.


Groß bist du, Mutter Natur!

Vor dir spielt Leviathan und Behemot,

Des Meers und der Erde Ungeheuer.

Uni deine Hüfte schwebt der Adler,

Und in deinem Strahle piept das Küchlein

Unter der Gluckhenne Fittich.

Groß bist du, Mutter Natur!


Geister.


Groß ist Jehovah allein!

Was athmet, athmet durch ihn.

Von ihm strömt Feuer

In alle Adern der Schöpfung aus.

Durch ihn schlagen die Pulse der Wesen

Hoch auf und preisen den Schaffer der Leben.

Groß ist Jehova allein.


Theon.


Groß ist Mutter Natur!

Sie giebt dem Riesen Knochen von Stahl;

Kleidet die Schönheit in Weiß und Roth;[236]

Nimmt Flammen von Gottes Altare,

Und schafft Zaubrer mit Pinsel,

Meißel und Richtscheit, – Dichter

Fahren auf im Gefühl ihrer Kraft.

Und Harmonia's Lieblinge

Fesseln Menschenseelen an ihr Saitenspiel.

Ja groß bist du, Mutter Natur!


Geister.


Groß ist Er, der Vater der Geister allein!

Was sind die Geister der Erde

Im Denken, Schaffen und Bilden,

Gegen die Geister des Himmels?

Des Menschen feurigster Geniusstrahl

Wird in der sonnigen Gluth

Eines Engelauges Dämmrung,

Und vor ihm, dem Vater der Geister,

Sind doch die Geister alle

Nur Funken von der Feueresse stäubend.

Erkenn' es, Mann von Staube,

Groß ist Jehovah allein!


Theon.


Ja, groß ist Jehovah, der Vater der Geister, allein!


Geister.


Alle Erdengröße, die an Ihm sich hinaufmißt,

Leckt seine Fußsohle kaum.

Er setzt seine Rechte wie einen Zirkel

In die Mitte des Alls und umschreibt die Räume,

Drinn sich wälzen die Riesen des Himmels,

Drinn sich wälzen die Riesen der Erde.

Theon, du Mann von Leim, auf des Weltgerichts Wage

Entscheidet nicht Größe; Güte entscheidet.

Verdien' du's, daß die goldne Schale dir zucke.


Theon und die Geister.


Groß ist Jehovah allein, der Wesenvater allein![237]

So scholl ihr Wechselsang im Eichenwalde,

Des Mondes Silberschild hing hoch und hehr

Ueber den schwarzen Wipfeln der Eiche.

Der strahlende Gürtel des Himmels, die Milchstraße,

Wölbte sich sanft um Theons Haupt.

Alles schwieg.

Die Geister schlüpften

In eine Gewölks fließendes Silber.

Und Theon legte den bebenden Finger

Auf den Mund – und verstummte.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 234-238.
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