Jesus weinend über Jerusalem

[270] Wen seh ich dort auf deines Oelbergs Höhen,

Jerusalem, mit nassen Augen stehen?

Wie zärtlich weint Der Menschenfreund,

Weil seine Augen Deinen Jammer sehen!


Der stolze Tempel steht in Gluth und Flammen,

Das Wunderwerk der Erde fällt zusammen,

Und in der Gluth Zischt Priesterblut,

Der Priester, die von Levis Lenden stammen.


Die marmornen Paläste stürzen nieder,

Und lautes Ach schallt in den Wolken wieder,

Die Mutter fleht, Der Vater sieht

Am Spieß des Römers seiner Kinder Glieder.


»Ach,« seufzt der Herr, und seine Thränen fließen,

»Willst du dein hartes Herz vor mir verschließen?«

Jerusalem, Jerusalem,

Ach soll ich dich im Staube sehen müssen!


Ach Kinder, seht auf Salems schwarzen Steinen

Den Geist der Rache fürchterlich erscheinen;

Ach, zwinget nicht Das Angesicht

Des Göttlichen auch über euch zu weinen!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 270.
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