Der Leichenzug

[317] Bleibe vor dem Sarge stehen,

Eitles, jugendliches Chor!

Fei'rlich steige zu den Höhen

Heut dein Leichenlied empor.

Diese schwarze Bahre beut

Dir ein Bild der Eitelkeit;

Drum so sing mit vollen Chören,

Daß es alle Menschen hören.


Händeringen, Klagen, Thränen,

Steigt mit eurem Lied empor.

Stumme, blaßgetraurte Mienen

Schauen aus dem Trauerflor.

Welches freche Angesicht,

Welcher Busen schauert nicht?

Wem erbeben nicht die Glieder

Bei den Leichen seiner Brüder?


Hebt, mit Thränen in den Blicken,

Träger, diesen Todten auf;

Tragt ihn nur mit starkem Rücken

Auf den Todtenberg hinauf.

Denkt, wie unter dieser Last

Euch ein Todesschrecken faßt:

Ach, wann wird die Stunde schlagen,

Da uns andre Schultern tragen?


Schau, mit einem edlen Schauer,

Lockre Erde, schaue du

Diesen Klagen, dieser Trauer,

Diesem Leichenzuge zu.

Auch zu deinem dicken Ohr

Steiget der Gesang empor,

Diese Stimme voll Verderben:

Alle Menschen müssen sterben!


Boy und Flor und Trauerkleider,

Herzen von Beklemmung schwer,

Langsam wandelnde Begleiter

Hinter diesem Sarge her;[318]

Blasse Schwermuth, stumme Pein,

Klagen, die sich müde schrein,

Freunde, die mit schwachen Füßen

Ihrem Todten folgen müssen.


Freunde! löscht der Tod den Schimmer

Dieser feuchten Blicke aus:

O! so traget meine Trümmer

Ohne Pracht zum Thor hinaus.

Ziehet ungesehn vorbei;

Christen ist es einerlei,

Ob sie schwarzbehängte Wagen

Oder Bettlerschultern tragen.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 317-319.
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