An Guibal

[411] O Guibal! der mit Wasser oder Oel,

So groß, wie Mengs und Raphael,

Bald Menschen, bald den Himmel malt,

Der dort auf Carln herunterstrahlt;[411]

Du wandelst auf der Spur

Der richtig zeichnenden Natur;

Drum komm und male mir

Dies Engelantlitz hier!

Die Stirne, wo die Tugend sitzt

Und Haß auf jedes Laster blitzt;

Den Himmel ihrer Augen – nein!

Willst du die Augen malen,

So tauch in Sonnenstrahlen

Zuvor den Pinsel ein.

Dann nimm Aurorens Kolorit

Und male mir wie Tizian damit

Der Lippen Purpur, ihre Wangen,

Wo tausend Amoretten hangen.

Vergiß mir nicht die wallenden Locken,

Die zart, wie seidne Flocken,

Um Psyche's Schultern hangen.

Wähl' Hogarths feinste Schlangen-

Und Wellenlinien,

Den schlanken Wuchs, der Glieder Harmonien

Mit sichrem Pinsel nachzuziehn.

Nimm Schnee mit Blut getuscht und male mir die Brust,

Den Thron der Liebe und der Lust.

Mal' ihre Arme rund und ohne Mängel,

Die Hände weiß und wollenweich,

Die Finger zart wie Lilienstengel,

Kurz, male sie dem Ideale gleich,

Woran Apell, der Griechen Guibal, starb

Und sich im Götterreich Unsterblichkeit erwarb.

Doch, armer Maler, ihren Geist,

Ihr göttlich Herz zu malen,

Das von Empfindung überfleußt;

Dies Herz mit allen Idealen

Und großen Zügen, dies zu malen,

Entsinkt der Pinsel dir,

Und ach, die Feder mir!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 411-412.
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