An Kronos

[386] Im Mai.


Wie die Engel durch die Himmel fliegen,

Fliegst du, Kronos, durch die Frühlingsluft;

Um die Stirne flattert wonniglich Vergnügen;

Deine locken thauen süßen Duft.


Weile, Kronos, einen ganzen Himmel

Wohlgerüche schickt dir die Natur.

Deiner Kinder buntes, schwärmendes Gewimmel

Sonnt und wälzt sich auf der jungen Flur.


Nachtigallen mit der sanften Seele

Flöten dir ein Frühlingsliedchen für!

Schwalben zwitschern mit der kleinen Kehle!

Braune Lerchen hangen über dir!


Milch, wie Nektar, spritzt für dich das volle

Euter ins krystallne Glas hinein:

Weile doch, o Kronos, zarte Lämmerwolle

Weiß gewaschen, soll dein Lager sein.


Deinen Schlummer fördern Schäferlieder,

Und das Murmeln der wohlthät'gen Blau;

Maienblüthen tanzen auf dich nieder,

Und ein Mädchen blühend wie die Au'


Beißt ins Fingerchen, und auf den Zehen

Schleicht sie hin zu dir und bücket sich,

Um den großen Schlummernden zu sehen,

Mit dem Silberbarte! – Ha, sie küsset dich![386]


Weile, Kronos, weile doch, du Lieber!

Zeig uns doch dein wonnesam Gesicht!

Doch du eilst in Frühlingsduft vorüber,

Wie in Stürmen, und du weilest nicht!


Ach, so nimm mich mit auf deinen Wagen,

Nimm mein Mädchen mit; denn ohne sie

Fänd' ich dort in ew'gen Sommertagen

Meinen Frühling, meinen Himmel nie!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 386-387.
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