An die Tonkunst

[465] Göttin der Tonkunst, auf purpurnen Schwingen

Kamst du von Sion zu Menschen herab;

Lehrtest sie flöten, und spielen, und singen,

Griffst in die Harfe, die Jova dir gab.

Thiere und Pflanzen

Strebten zu tanzen;

Kummer und Schwermuth mit wolkigem Blick

Wichen dir, mächtige Göttin! zurück.


Jetzt töntest du der Liebe Freuden

Ins hohe Harfenspiel.

Du sangst von Minneseligkeiten,

Und jede Note war Gefühl.

Göttin der Tonkunst, auf purpurnen Schwingen

Kamst du von Sion zu Menschen herab!


Jetzt fingst du an zu spielen

Den stummgewordnen Schmerz,

Bis süße Thränen fielen

Und lüfteten das Herz.

Göttin der Tonkunst, auf purpurnen Schwingen

Kamst du von Sion zu Menschen herab![465]


Jetzt rauschten die Saiten

Von hüpfenden Freuden;

Es kam im blühenden Kranz

Der wirbelnde schwäbische Tanz.

Göttin der Tonkunst, auf purpurnen Schwingen

Kamst du von Sion zu Menschen herab!


Nun schwang die Göttin sich zum Chor

Der Feiernden im Gotteshaus empor,

Und griff mit mächtiger Faust

Ins Orgelspiel: die Töne flogen

Brausend empor – so braust

Der Ocean mit seinen Wogen –

Und Hallelujah donnerte der Chor

In Fugen zum Himmel empor.

Göttin der Tonkunst, auf purpurnen Schwingen

Kamst du von Sion zu Menschen herab!


Und nun sangst du ein Kirchenlied;

Die Andacht mischt sich drein,

Die betend vor dem Himmel kniet;

Und singend schlief sie ein.

Göttin der Tonkunst, auf purpurnen Schwingen

Kamst du von Sion zu Menschen herab!

Lehrtest sie flöten, und spielen, und singen,

Griffst in die Harfe, die Jova dir gab.

Thiere und Pflanzen

Strebten zu tanzen;

Kummer und Schwermuth mit wolkigem Blick

Wichen dir, mächtige Göttin! zurück.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 465-466.
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