Prolog zu Lessings Emilia Galotti gesprochen von Demoiselle Reichard 1776 in Ulm

[474] Erlauchte Gönner unsrer Spiele,

Hier steht Emilia

Zum erstenmal voll schüchterner Gefühle

In ihrer Unschuld vor Euch da! –

Wie werden ihre Hände wanken,

Wenn sie die Rosenblätter pflückt,

Und wenn vertieft in schreckliche Gedanken

Der Vater – ha! den Dolch nach ihrem Busen zückt.

O stärke mich, Natur, und öffne du dieß Herze,

Daß sein Gefühl sich heiß und wahr ergießt,

Bei des Geliebten Tod und bei des Vaters Schmerze

Auch meine Thräne – wirklich fließt.

Und wenn aus weiter aufgerissner Wunde

Das Blut in Purpurtropfen quillt,

Ach, wenn verbleicht die Röth' auf meinem Munde

Und Nebel meine Blicke hüllt –

So bebt mit uns vor dieser Scene,

Der furchtbarsten, der schrecklichsten!

Schenkt meinem Vater eine Thräne

Und mir – der Hingeopferten!

Wenn dann ein Edler spräche:

O Himmel, räche, räche

Die Unschuld! Säume nicht,

Du furchtbares Gericht!

Dein Wetter soll die Marinellis treffen,

Die ihre bessre Fürsten äffen!

Sie hat die Höll' heraufgesandt! –

Und dann der Beifall jeder Hand

Uns zuklatscht; wie belohnt ist da

Die glückliche Emilia! –[474]

Seht ihr schon jetzt in ihrer Miene

Des wahren Beifalls Freuden nicht?

Wohlan! – Ihr Gönner dieser Bühne,

Ich eile schon! – Mich ruft Natur und Pflicht.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 474-475.
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