Die Aussicht

[67] Schön ist's, von des Thränenberges Höhen

Gott auf seiner Erde wandeln sehen,

Wo sein Odem die Geschöpfe küßt.

Auen sehen, drauf Natur, die treue,

Eingekleidet in des Himmels Bläue,

Schreitet, und wo Milch und Honig fließt!


Schön ist's, in des Thränenberges Lüften

Bäume sehn, in silberweißen Düften,

Die der Käfer wonnesummend trinkt;

Und die Straße sehn im weiten Lande,

Menschenwimmelnd, wie vom Silbersande

Sie, der Milchstraß' gleich am Himmel, blinkt.


Und der Neckar blau vorüberziehend,

In dem Gold der Abendsonne glühend,

Ist dem Späherblicke Himmelslust;

Und den Wein, des siechen Wandrers Leben,

Wachsen sehn an mütterlichen Reben,

Ist Entzücken für des Dichters Brust.


Aber, armer Mann, du bist gefangen;

Kannst du trunken an der Schönheit hangen?

Nichts auf dieser schönen Welt ist dein![67]

Alles, alles ist in tiefer Trauer

Auf der weiten Erde; denn die Mauer

Meiner Veste schließt mich Armen ein!


Doch herab von meinem Thränenberge

Seh' ich dort den Moderplatz der Särge;

Hinter einer Kirche streckt er sich

Grüner als die andern Plätze alle:

Ach! herab von meinem hohen Walle

Seh' ich keinen schönern Platz für mich!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 67-68.
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