Das Gewitter

[247] Urahne, Großmutter, Mutter und Kind

In dumpfer Stube beisammen sind;

Es spielet das Kind, die Mutter sich schmückt,

Großmutter spinnet, Urahne gebückt

Sitzt hinter dem Ofen im Pfühl –

Wie wehen die Lüfte so schwül!


Das Kind spricht: »Morgen ist's Feiertag,

Wie will ich spielen im grünen Hag,

Wie will ich springen durch Thal und Höh'n,

Wie will ich pflücken viel Blumen schön;

Dem Anger, dem bin ich hold!« –

Hört ihr's, wie der Donner grollt?


Die Mutter spricht: »Morgen ist's Feiertag,

Da halten wir alle fröhlich Gelag,

Ich selber ich rüste mein Feierkleid;

Das Leben es hat auch Lust nach Leid,

Dann scheint die Sonne wie Gold!« –

Hört ihr's, wie der Donner grollt?


Großmutter spricht: »Morgen ist's Feiertag,

Großmutter hat keinen Feiertag,

Sie kochet das Mahl, sie spinnet das Kleid,

Das Leben ist Sorg' und viel Arbeit;

Wohl dem, der that, was er sollt'!« –

Hört ihr's, wie der Donner grollt?


Urahne spricht: »Morgen ist's Feiertag,

Am liebsten morgen ich sterben mag:[247]

Ich kann nicht singen und scherzen mehr,

Ich kann nicht sorgen und schaffen schwer,

Was thu' ich noch auf der Welt?« –

Seht ihr, wie der Blitz dort fällt?


Sie hören's nicht, sie sehen's nicht,

Es flammet die Stube wie lauter Licht:

Urahne, Großmutter, Mutter und Kind

Vom Stral miteinander getroffen sind,

Vier Leben endet ein Schlag –

Und morgen ist's Feiertag.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 247-248.
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