Die Wurmlinger Kapelle

[258] Von Calw Graf Anselm lag am Tod,

Ein stark und frommer Grafe,

Er ging mit vollen Sinnen ein

Zum allerletzten Schlafe;
[258]

Er prüfte mit dem Auge so hell,

Als zög' er hinaus auf's Jagen,

Er sprach mit seiner Zunge so klar,

Als rief' er im Feld zum Schlagen.


Er sprach: »Ich kann durch's Fenster sehn

Den Kirchhof mit den Steinen,

Die Sonne mag ihn mit ihrem Licht

Nicht einmal Jahrs bescheinen.


Ich habe gelebt auf Bergen frei

In Schlachten und in Siegen,

Ueber Berge zog ich in's heilige Land,

Auf Bergen möcht' ich liegen.


Es ist vergangen kein einziger Tag,

Daß ich nicht zog in die Ferne,

Ich führ' als tot in die weite Welt

Noch Einmal gar zu gerne.


So spannt vor einen Wagen bald

Ein tüchtig Paar von Stieren,

Die schickt mit meinem Sarg hinaus,

Doch keiner soll sie regieren.


Und wenn sie halten auf einem Berg,

Macht dort mir ein Grab zur Stelle,

Und baut zu Gottes Ehren auf

Eine heilige Kapelle.«


Und als der Graf verschieden war,

That man nach seinem Willen,

Auf schwarzem Wagen zwei schwarze Stier'

Zieh'n steinernen Sarg im Stillen.


Sie ziehen mitten durch's Ackerfeld,

Es will es keiner wehren,

Der Pflüger weicht und betet fromm

Dem toten Herrn zu Ehren.


Sie ziehn vom Morgen bis zur Nacht,

Und wieder bis zum Morgen,

Da machen sich die Diener auf,

Zu suchen und zu sorgen.
[259]

Sie fragen nach der irren Spur

Mit Worten lange, mit Blicken,

Bis sie auf einem steilen Berg,

Fern das Gespann erblicken.


Der Berg ragt wie ein Thurmesdach,

Dahin sie ihn getragen,

Die Stiere brachten ihn wohl hinauf,

Der Sarg fiel nicht vom Wagen.


Die Diener stellen sich um den Sarg,

Sie singen zu Gottes Preise,

Daß er so wohl gelingen ließ

Dem Herrn die letzte Reise.


Von vielen Dörfern tönt herauf

Ein frommes Grabgeläute,

Die Berge glühn in der Sonne Gold,

Als ob sie ihm Blumen streute.


Und wie den Sarg man öffnet noch,

Des Grafen Aug' ist offen,

Als hätt' ihn Berges Luft und Licht

Mit weckender Macht getroffen.


Auch liegt der Abendsonne Schein

So rot auf Lippen und Wangen:

Es war, als wäre der bleiche Tod

Vor seinem Stral vergangen.


Doch senkten ihn die Diener ein

Nach seinem Wunsch, zur Stelle,

Als Grundstein weihten sie den Sarg

Zur heiligen Kapelle.


Von drunten kommen auf deren Klang

Seitdem viel Tote zu schlafen,

Das ganze, tiefe Dorf will ruhn

Auf hohem Berge bei'm Grafen.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 258-260.
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