Der Graf von Aichelberg

[308] »Seht ihr das Gut am Berge dort?

Es glänzt wie grüner Edelstein;

Deß Lehen soll's von heute sein,

Der zu mir spricht das liebste Wort!«


Und alle Mannen, die zu Pferd

Dem Grafen folgen in das Thal,

Zu sprechen heben an zumal

Ein Wörtlein, das ihm däuchte wert.


Da heißt er gütig, heißt er schön,

Ein reicher Herr an Volk und Feld,

Uralt von Stamm, ein starker Held,

Sein Schloß das herrlichste der Höhn.


So hallt sein Lob zum Rosseshuf;

Da steht am Weg ein Mütterlein,

Am Stab gebeugt, vom Alter klein,

Die läßt ertönen ihren Ruf.


»Du lieber Sohn! Gott grüße dich!«

So schallt ihr Gruß am Pferd empor,

Der Graf neigt schmerzlich Aug' und Ohr,

Die stolzen Ritter wundern sich.


»Was sprichst du für ein thöricht Wort?

Die Mutter liegt im Grabe mir,

Sie war der Edeltöchter Zier,

Von ihrer Brust trug man mich fort!«


Da sprach das Mütterlein: »Ja, Sohn!

Man trug dich fort von ihrer Brust,

Doch eh du spürtest den Verlust,

Lagst du an meinen Brüsten schon!


Dein Auge das so traurig schaut,

Es lachte hold an mir empor,

Es lauschte meinem Lied dein Ohr,

Und sanft war deiner Stimme Laut.
[309]

In deinen Adern floß mein Blut,

Ich stahl die Milch dem eignen Sohn;

Drum laß mir meinen Ammenlohn:

Ich nenne ›Sohn‹ dich wohlgemut!«


Im Nebel schwamm des Grafen Blick,

Und vor ihm schwankte Berg und Thal,

Dann ward sein Aug' ein Sonnenstral,

Er bog vom Pferd sein stolz Genick.


Die Rechte bot er dar der Frau,

Sein Mund auf ihrer Lippe ruht,

Den Rittern stieg zu Haupt ihr Blut,

Er aber deutet auf die Au':


»Siehst du das Gut am Berge dort?

Es glänzt wie grüner Edelstein;

Dein Lehen soll's von heute sein,

Du sprachst zu mir das liebste Wort!«

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 308-310.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen / Der Kuß von Sentze

Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon