Schloß Lichtenstein

[300] In einem tiefen grünen Thal

Steigt auf ein Fels, als wie ein Stral,

Drauf schaut das Schlößlein Lichtenstein

Vergnüglich in die Welt hinein.


In dieser abgeschiednen Au',

Da baut' es eine Ritterfrau,

Sie war der Welt und Menschen satt,

Auf den Bergen sucht sie eine Statt.


Den Fels umklammert des Schlosses Grund,

Zu jeder Seiten gähnt ein Schlund,

Die Treppen müssen, die Wände von Stein,

Die Böden ausgegossen sein.


So kann es trotzen Wetter und Sturm,

Die Frau wohnt sicher auf ihrem Thurm,

Sie schauet tief in's Thal hinab,

Auf die Dörfer und Felder, wie in's Grab.


»Die blaue Luft, der Sonnenschein,«

Spricht sie, »der Wälder Klang ist mein,

Eine Feindin bin ich aller Welt,

Zu Gottes Freundin doch bestellt.«


Mit diesem Spruch sie lebt' und starb,

Davon das Schloß sich Ruhm erwarb,

Seit wohnte drauf manch ein Menschenfeind,

Und ward in der Höhe Gottes Freund.


Und als vergangen hundert Jahr,

Ein Menschenfeind auch droben war,

Lang hatt' er an keinen Menschen gedacht,

Da pocht' es einsmals an zu Nacht.
[300]

»Es ist ein einz'ger vertriebner Mann,

Der Welt Feind wohl er sich nennen kann,

Herr Ulrich ist's von Wirtemberg,

Zu Gaste will er auf diesen Berg.«


Der Andre hat ihm aufgemacht,

Er nimmt des Fürsten wohl in Acht;

Er zeiget ihm das finstre Thal,

Das weit sich dehnt im Mondenstral.


Der Herzog schaut hinunter lang,

Er spricht mit einem Seufzer bang:

»Wie fern, ach! von mir abgewandt,

Wie tief, wie tief liegst du, mein Land!«


»Auf meiner Burg, Herr Herzog, ja!

Ist Erde fern, doch Himmel nah;

Wer schaut hinauf, und wohnt nicht gern

Im Himmelreich von Mond und Stern?«


Da hebt der Herzog seinen Blick,

Und sieht nicht wieder auf's Land zurück;

Von Nacht zu Nacht wird er nicht satt,

Bis er es wohl verstanden hat.


Und als nach manchem schweren Jahr

Er wieder Herr vom Lande war,

Da hat er alles wohl bestellt,

Und hieß ein Freund von Gott und Welt.


Wie hat er erworben solche Gunst?

Wo hat er erlernet solche Kunst?

In des Himmels Buch, auf Lichtenstein,

Da hat er's gelesen im Sternenschein.


Das Schloß zerfiel, es ward daraus

Ein leichtgezimmert Försterhaus;

Doch schonet sein der Winde Stoß,

Meint, es sei noch das alte Schloß.
[301]

Und einsam ist es jetzt nicht mehr,

Es kommt der Gäste fröhlich Heer,

Aus einer Höhle1 kommen sie,

Doch Menschenfeinde sind es nie.


Manch holdes Mädchenangesicht

Läßt leuchten seiner Augen Licht,

Da führt mit Recht in solchem Schein

Das Schloß den Namen Lichtenstein.


Die Männer stolz, die Mägdlein frisch,

Sie sitzen alle um Einen Tisch,

Die Erde lächelt herauf so hold,

Es stralt am Himmel der Sonne Gold.


Sie spenden von des Weines Thau

Dem Herzog und der Edelfrau,

Sie bitten sie, dies Schlößlein gut

Zu nehmen in ihre fromme Hut.


Und ziehn sie ab, mit einer Brust

Voll Gotteslieb' und Menschenlust,

Dann steht im späten Sternenschein

Einsam und selig der Lichtenstein.

Fußnoten

1 Der Nebelhöhle, die seitdem durch Wilh. Hauff's Lichtenstein wohl allen meinen deutschen Lesern bekannt geworden. Nach ihrer jährlichen Erleuchtung sammeln sich die Besucher derselben auf Lichtenstein. Das Försterhaus ist seit Anfang der vierziger Jahre verschwunden. Das jetzige in gothischem Styl erbaute Schloß ist eine Schöpfung des verstorbenen Herzogs Wilhelm von Urach, Grafen von Württemberg, (Bruder des Dichters Alexander Graf von Württemberg.)


Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 300-302.
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