5. Appenzell kommt in der Freunde Hand

[419] Von des Säntis eis'gen Klüften

Bricht ein frischer Südwind aus,

Weht mit ungebundnen Lüften

Durch das leere Gotteshaus;

Schwingt sich über Feld und Hügel

An des Bodensees Strand,

Leiht den Schiffen seine Flügel,

Jagt sie heim in's Schwabenland.


In die halbverbrannten Vesten

Kehrt zurück der Edelmann,

Bauet an den schwarzen Resten,

Daß er sicher wohnen kann.

Aus der falschen Stadt Sankt Gallen

Flieht ins feste Wyl der Abt,

Weil des Klosters offne Hallen

Schon der kühne Hirt umtrabt.


Appenzell ist los des Feindes,

Und sein Volk, der Bande frei,

Lehnt sich auf den Arm des Freundes,

Der ihm in der Not stand bei.

Löri kommt, der Hirtenbube,

Aus dem Schwyzerland heran,

Das im Feld und Rathausstube

Hilfe schickt, sechshundert Mann.


Und die Männer mögen's leiden,

Daß der Löri für sie kürt,

Folgen willig und bescheiden,

Wenn er ihre Rotten führt.[419]

Ihres Gleichen ist der Knabe,

Der ins Thal herunter stieg

Schlicht, an seinem Hirtenstabe,

Mitzukämpfen heil'gen Krieg.


Aber, der da kam zu Fuße

Schwinget bald sich auf ein Roß,

Steuer schreibt er, fordert Buße,

Hält sich grober Knechte Troß.

In des Volkes Rat erschien er

Nicht wie andre Hirten mehr,

Denn es trägt ihm nach der Diener,

Wie dem Edelmann, den Speer.


Auf dem Speicher, wo im Streite

Freier Männer Stirne trof,

Zehrt er von der Siegesbeute,

Hält wie große Herren Hof.

Schickt den Hirten auf die Höhen:

Wildpret liebt er auf dem Tisch!

Aus des Säntis tiefen Seen

Fängt man ihm den besten Fisch;


Denn er glaubt, vom Wein bethöret,

Ihrer aller Herr zu sein:

»Was dem Gotteshaus gehöret,«

Schreit er, »Leut' und Land sind mein!«

Als er das im Rausch gesprochen,

Flogen Steine nach dem Wicht,

Doch die Schwyzer, losgebrochen,

Lassen von dem Führer nicht.


Und die Ritter in dem Thale,

Und der Abt im Schloß zu Wyl,

Freuen wieder sich beim Mahle,

Halbgewonnen ist ihr Spiel:

»Sagt, ist das nicht Gottes Rache,

Daß es dazu kam so schnell,

Daß ein Bub' führt solche Sprache,

Und regiert im Appenzell?«
[420]

Regt sich in dem Land kein Rächer?

Hebet seinen Arm kein Held?

Ach, der Schwyzer ist ihr Sprecher,

Und der Schwyzer führt im Feld!

So verstreut sind ihre Rotten,

So getheilt ist ihre Macht,

Daß die Fremden ihrer spotten,

Und der Nachbar sie verlacht.


Doch des Volkes Seufzen wendet

Nicht umsonst sich himmelwärts:

Löri's Auge wird verblendet,

Und verhärtet wird sein Herz.

Wie die Städte friedlich sprechen

Auf dem Tag zu Winterthur,

Denkt den Frieden er zu brechen,

Sinnt auf Raub und Beute nur.


Hastig führt er seine Scharen

Auf das Dörflein Zuckenried,

Fromme Hirten bei ihm waren,

Sangen ihm kein gutes Lied.

Dennoch bundsvergessen fährt er

In das Dorf mit Brand und Mord,

Rings das schöne Feld verheert er,

Zieht beladen wieder fort.


Hinter ihm die Bauern fluchen,

Höret er's nicht, hört's doch Gott!

An der Mühle dunkeln Buchen

Hallt's wie wilder Reiter Trott:

Die von Constanz sind's, die Städter,

Rächen grimm den Friedensbruch,

Auf ihn nieder, wie im Wetter,

Fährt und trifft des Himmels Fluch.


Zwar die Hirten all', die treuen,

Kämpfen für den falschen Freund;

Appenzell! – laß dich's nicht reuen –

Dir zum Glücke siegt der Feind![421]

Laß nur fliehen deine Scharen;

Deinem Hauptmann ist ein Pfeil

In die falsche Brust gefahren,

Jetzt erblüht dir wieder Heil.


Seht, die wackern Männer tragen

Fromm den Wunden aus der Schlacht.

»Sei, weil ihn der Herr geschlagen,

Seiner Sünde nicht gedacht!«

Sprechen sie, – und auf dem Speicher

Pflegen sie mit Sorgen sein,

Aber immer wird er bleicher,

Stirbt zuletzt in Reu' und Pein.


Seiner Seele halten Messen

Sie im frommen Appenzell,

Haben nicht des Leibs vergessen,

Laden ihn zu Rosse schnell,

Führen ihn durch Berg und Thale

Gen Einsiedeln in sein Grab;

Wieder blickt mit heitrem Strale

Gottes Sonn' ins Land herab.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 419-422.
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