Zweite Szene

[235] Ein andres Zimmer daselbst.


Es treten auf der Schließer und ein Diener.


DIENER. Er hält noch ein Verhör, er kommt sogleich. Ich meld' Euch an.

SCHLIESSER.

Das tut.


Diener ab.


Ich frag' ihn nochmals,

Was er beschließt; vielleicht doch zeigt er Gnade.

Er hat ja nur als wie im Traum gesündigt.

Der Fehl färbt jede Sekt' und jedes Alter,

Und er drum sterben! –


Angelo tritt auf.[235]


ANGELO.

Nun, was wollt Ihr, Schließer?

SCHLIESSER.

Befehlt Ihr, Herr, daß Claudio morgen sterbe?

ANGELO.

Sagt' ich dir nicht schon ja? Befahl ich's nicht?

Was fragst du denn?

SCHLIESSER.

Aus Furcht, zu rasch zu sein;

Verzeiht, mein gnäd'ger Herr: ich weiß den Fall,

Daß nach vollzognem Urteil das Gericht

Bereute seinen Spruch.

ANGELO.

Mein sei die Sorge! –


Tut Eure Pflicht, sonst sucht ein ander Amt,

Man wird Euch leicht entbehren.

SCHLIESSER.

Herr, verzeiht!

Was soll mit Julien, die schon leidet, werden?

Denn ihre Stunde rückt heran.

ANGELO.

Die schafft mir

In ein bequem'res Haus, und das sogleich!


Diener kommt zurück.


DIENER.

Hier ist die Schwester des zum Tod Verdammten,

Die Euch zu sprechen wünscht.

ANGELO.

Hat er 'ne Schwester?

SCHLIESSER.

Ja, gnäd'ger Herr; ein tugendhaftes Fräulein,

Die bald nun eintritt in die Schwesterschaft,

Wenn's nicht bereits geschehn.

ANGELO.

Führt sie herein;


Diener ab.


Und die Geschwächte schafft sogleich hinweg;

Reicht ihr notdürft'ge Kost, nicht Überfluß!

Ausfert'gen lass' ich den Befehl.


Lucio und Isabella treten auf.


SCHLIESSER.

Gott schütz' Euch!


Will abgehn.


ANGELO.

Bleibt noch! –


Zu Isabella.


Ihr seid willkommen; was begehrt Ihr?

ISABELLA.

Von Gram erfüllt, möcht' ich Eu'r Gnaden flehn,

Wenn Ihr mich hören wollt –

ANGELO.

Wohlan! Was wünscht Ihr?[236]

ISABELLA.

Es gibt ein Laster, mir verhaßt vor allen,

Dem ich vor allen harte Strafe wünsche;

Fürbitten möcht' ich nicht, allein ich muß –


Fürbitten darf ich nicht, allein mich drängt

Ein Kampf von Wollen und Nichtwollen.

ANGELO.

Weiter!

ISABELLA.

Mein Bruder ward verdammt, den Tod zu leiden;

Ich fleh' Euch an, laßt seine Sünde tilgen,

Den Bruder nicht!

SCHLIESSER.

Gott schenk' dir Kraft, zu rühren!

ANGELO.

Ich soll die Schuld verdammen, nicht den Täter?

Verdammt ist jede Schuld schon vor der Tat.

Mein Amt zerfiele ja in wahres Nichts,

Straft' ich die Schuld, wie das Gesetz begehrt,

Und ließe frei den Täter.

ISABELLA.

O gerecht, doch streng! –


So hatt' ich einen Bruder. Gott beschirm' Euch!


Will gehn.


LUCIO zu Isabella.

Gebt's so nicht auf! Noch einmal dran, und bittet;

Kniet vor ihm nieder, hängt an seinem Mantel!

Ihr seid zu kalt; verlangtet Ihr 'ne Nadel,

Ihr könntet nicht mit zahmrer Zunge bitten. –


Noch einmal zu ihm, frisch! –

ISABELLA.

So muß er sterben? –

ANGELO.

Jungfrau, 's ist keine Rettung.

ISABELLA.

O ja! Ich denk'. Ihr könntet ihm verzeihn,

Und weder Gott noch Menschen zürnten Euch.

ANGELO.

Ich will's nicht tun.

ISABELLA.

Doch könnt Ihr's, wenn Ihr wollt?

ANGELO.

Was ich nicht will, das kann ich auch nicht tun.

ISABELLA.

Doch könntet Ihr's ohn' Unrecht an der Welt,

Wenn Euer Herz die gleiche Rührung fühlte

Wie meins?

ANGELO.

Er ward verurteilt, 's ist zu spät.

LUCIO zu Isabella.

Ihr seid zu kalt!

ISABELLA.

Zu spät? O nein doch! Mein gesprochnes Wort,

Ich kann es widerrufen! Seid gewiß,

Kein Attribut das Mächtige verherrlicht,

Nicht Königskrone, Schwert des Reichsverwesers,[237]

Des Marschalls Stab, des Richters Amtsgewand,

Keins schmückt sie alle halb mit solchem Glanz,

Als Gnade tut. War er an Eurer Stelle,

An seiner Ihr, Ihr straucheltet gleich ihm;

Doch er im Amt wär' nicht so strengen Sinns! –

ANGELO.

Ich bitt' Euch, geht!

ISABELLA.

O güt'ger Gott, hätt' ich nur Eure Macht,

Und Ihr wär't Isabella! Ständ' es so,

Dann zeigt' ich, was es heißt, ein Richter sein,

Was ein Gefangner.

LUCIO leise.

Das ist die rechte Weise! –

ANGELO.

Eu'r Bruder ist verfallen dem Gesetz,

Und Ihr verschwendet Eure Worte.

ISABELLA.

Weh mir!

Ach! Alle Seelen waren einst verfallen,

Und Er, dem Fug und Macht zur Strafe war,

Fand noch Vermittlung. Wie erging' es Euch,

Wollt' Er, das allerhöchste Recht, Euch richten

So, wie Ihr seid? Oh, das erwäget, Herr,

Und Gnade wird entschweben Euren Lippen

Mit Kindes Unschuld.

ANGELO.

Faßt Euch, schönes Mädchen;

Denn das Gesetz, nicht ich, straft Euern Bruder.

Wär' er mein Vetter, Bruder, ja mein Sohn,

Es ging' ihm so: sein Haupt wird morgen fallen.

ISABELLA.

Schon morgen! Das ist schnell! O schont ihn, schont ihn,

Er ist noch nicht bereit. Wir schlachten ja

Geflügel nur, wenn's Zeit ist; dienten wir

Gott selbst mit mindrer Achtung, als wir sorgen

Für unser grobes Ich? Denkt, güt'ger, güt'ger Herr,

Wer büßte schon für dies Vergehn mit Tod?

So manche doch begingen's! –

LUCIO leise.

So ist's recht.

ANGELO.

Nicht tot war das Gesetz, obwohl es schlief.

Die vielen hätten nicht gewagt den Frevel,

Wenn nur der erste, der die Vorschrift brach,

Für seine Tat gebüßt. Nun ist's erwacht,

Forscht, was verübt ward, und Propheten gleich[238]

Sieht es im Spiegel, was für künft'ge Sünden

(Ob jetzt schon, ob durch Nachsicht neu erzeugt,

Und ferner ausgebrütet und geboren)

Hinfort sich stufenweis' nicht mehr entwickeln,

Nein, sterben im Entstehn.

ISABELLA.

Zeigt dennoch Mitleid! –

ANGELO.

Das tu' ich nur, zeig' ich Gerechtigkeit.

Denn dann erbarmen mich, die ich nicht kenne,

Die jetz'ge Nachsicht einst verwunden möchte;

Und ihm wird Recht, der, ein Verbrechen büßend,

Nicht lebt, ein zweites zu begehn. Dies g'nüge; –


Claudio muß morgen sterben; – seid zufrieden!

ISABELLA.

So muß zuerst von Euch solch Urteil kommen,

Und er zuerst es dulden? Ach, 's ist groß,

Des Riesen Kraft besitzen; doch tyrannisch,

Dem Riesen gleich sie brauchen.

LUCIO leise.

Ha, vortrefflich! –

ISABELLA.

Könnten die Großen donnern

Wie Jupiter, sie machten taub den Gott:

Denn jeder winz'ge, kleinste Richter brauchte

Zum Donnern Jovis Äther; – nichts als Donnern!

O gnadenreicher Himmel!

Du mit dem zack'gen Felsenkeile spaltest

Den unzerkeilbar knot'gen Eichenstamm,

Nicht zarte Myrten: doch der Mensch, der stolze Mensch,

In kleine, kurze Majestät gekleidet,

Vergessend, was am mind'sten zu bezweifeln,

Sein gläsern Element, – wie zorn'ge Affen,

Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,

Daß Engel weinen, die, gelaunt wie wir,

Sich alle sterblich lachen würden. –

LUCIO.

Nur weiter, weiter, Kind; er gibt schon nach;

Es wirkt, ich seh' es.

SCHLIESSER.

Geb' ihr Gott Gelingen! –

ISABELLA.

Miß nicht den Nächsten nach dem eignen Maß:

Ihr Starken scherzt mit Heil'gen. Witz an euch

Ist, was am Kleinen nur Entweihung wär'.

LUCIO.

Das ist die rechte Weise; immer mehr! –[239]

ISABELLA.

Was in des Feldherrn Mund ein zornig Wort,

Wird beim Soldaten Gotteslästerung.

LUCIO.

Wo nimmst du das nur her? Fahr' fort! –

ANGELO.

Was überhäufst du mich mit all den Sprüchen? –

ISABELLA.

Weil Hoheit, wenn sie auch wie andre irrt,

Doch eine Art von Heilkraft in sich trägt,

Die Fehl' und Wunden schließt. Fragt Euer Herz,

Klopft an die eigne Brust, ob nichts drin wohnt,

Das meines Bruders Fehltritt gleicht: bekennt sie

Menschliche Schwachheit, wie die seine war,

So steig' aus ihr kein Laut auf Eure Zunge

Zu Claudias Tod.

ANGELO.

Sie spricht so tiefen Sinns,

Daß Sinn und Geist ihr folgen. – Lebt nun wohl! –

ISABELLA. O teurer Herr, kehrt um! –

ANGELO.

Ich überleg' es noch. Kommt morgen wieder! –

ISABELLA.

Hört, wie ich Euch bestechen will! Kehrt um,

Mein güt'ger Herr!

ANGELO.

Wie! Mich bestechen?

ISABELLA.

Ja, mit solchen Gaben,

Wie sie der Himmel mit Euch teilt! –

LUCIO.

Gut, sonst verdarbst du alles! –

ISABELLA.

Nicht eitle Seckel voll geprägten Goldes,

Noch Steine, deren Wert bald reich, bald arm,

Nachdem die Laun' es schätzt: nein, fromm Gebet,

Das auf zum Himmel steigt und zu ihm dringt

Vor Sonnenaufgang; Bitten reiner Seelen,

Fastender Jungfrau'n, deren Herz nicht hängt

An dieser Zeitlichkeit.

ANGELO.

Gut, morgen kommt

Zu mir!

LUCIO.

Jetzt geht nur; es gelingt Euch. – Kommt! –

ISABELLA.

Der Himmel schütz' Eu'r Gnaden! –

ANGELO für sich.

Amen! Denn

Ich bin schon auf dem Wege der Versuchung,

Der die Gebete kreuzt.

ISABELLA.

Um welche Stunde morgen

Wart' ich Eu'r Gnaden auf?[240]

ANGELO.

Zu jeder Zeit vor Mittag.

ISABELLA.

Gott beschütz' Euch!


Lucio, Isabella und Schließer gehn ab.


ANGELO.

Vor dir! Vor deiner Tugend selbst! –


Was ist dies? Was? Ist's ihre Schuld, ist's meine?

Wer sündigt mehr? Ist's die Versucherin,

Ist's der Versucher? Ha!

Nicht sie, nein, sie versucht auch nicht! Ich bin's,

Der bei dem Veilchen liegt im Sonnenschein

Und gleich dem Aase, nicht der Blume gleich,

Verwest in der balsam'schen Luft. Ist's möglich,

Daß Sittsamkeit mehr unsern Sinn empört

Als Leichtsinn? Da uns wüster Raum nicht fehlt,

Soll man die heil'gen Tempel niederreißen,

Den Frevel dort zu baun? O pfui, pfui, pfui! –


Was tust du! Ha, was bist du, Angelo!

Du wünschest sie verderbt, um eben das,

Was sie erhebt? Oh, laß den Bruder leben! –


Es hat der Dieb ein freies Recht zum Raub,

Wenn erst der Richter stiehlt. Was! Lieb' ich sie,

Daß mich's verlangt, sie wieder reden hören,

An ihrem Blick mich weiden ... Wovon träum' ich?

O list'ger Erbfeind! Heil'ge dir zu fangen,

Köderst du sie mit Heil'gen: höchst gefährlich

Ist die Versuchung, die durch Tugendliebe

Zur Sünde reizt. Nie konnte feile Wollust

Mit ihrer Doppelmacht, Natur und Kunst,

Mich je verlocken: doch dies fromme Mädchen

Besiegt mich ganz. Bis heut begriff ich nie

Die Liebestorheit, fragte lachend, wie? –


Ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 2, Berlin: Aufbau, 1975, S. 235-241.
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