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Das traurige Marlenchen lernt lachen

[179] Kasperle rannte unterdessen, so schnell es konnte, nach Schloß Lindeneck. Es sprang, kugelte, kollerte, purzelbaumte und gelangte so schneller hin als einer, der bedächtig auf seinen zwei Beinen geht.

Am Tor vor Schloß Lindeneck aber stand einer Wache, der sehr grimmig dreinsah, ein Mann, groß wie ein Baum, dick wie ein Faß; das war des Schloßherrn allertreuester Diener, Eicke Pimperling. Der schrie drohend, als er das Kasperle kommen sah: »Hier darf niemand 'rein! Wer bist du überhaupt? Aussehen tust du wie ein Laubfrosch, und hüpfen kannst du auch so.«

»Ich bin, wer ich bin, und ich muß hinein«, rief Kasperle patzig.

»Nichts da, marsch kehrt, hier darf niemand 'rein!«

Oho, dachte Kasperle, dem Grobian schlage ich einfach einen Purzelbaum über den Kopf weg! Und bei dem Gedanken lachte es hell auf.

»Was, gelacht wird hier nicht!« Eicke Pimperling nahm einen großen Stock, es sah bedrohlich aus, aber Kasperle dachte: Es mag kommen, was will, ich muß hinein. Und dann eins, zwei, drei, sauste es über Eickes Kopf hinweg, daß der vor Schreck mit dem Kopf hin und her wackelte.

Kasperle selbst aber saß unversehens mitten im Schloßhof vor dem traurigen Marlenchen. Das schrie erschrocken auf, und ein stattlicher, finster aussehender Herr, der unter[179] einem blühenden Rosenbusch saß, blickte erstaunt auf. Er zog die Augen finster zusammen, als er den kleinen Eindringling gewahrte, aber da rief schon Marlenchen: »Vater, das ist mein Freund Kasperle!«

»Verzeihung, gnädiger Herr, daß dieser Laubfrosch hier eingedrungen ist«, dröhnte Eickes Stimme durch den Schloßhof, und der gewaltige Mann kam mit großen Schritten näher, gerade auf Kasperle zu.

»Tu ihm nichts, Eicke!« rief Marlenchen mit klingendem Stimmlein. »Das ist kein Laubfrosch, das ist mein Freund Kasperle.«

»Dein Freund Kasperle?« Herr von Lindeneck sah sein blasses Kind erstaunt an, und Marlene legte die Hände auf ihr klopfendes Herzelein, sah scheu zu ihrem Vater auf und erzählte leise, leise, wo sie das Kasperle immer getroffen hatte.

Und plötzlich schnatterte Kasperle vergnügt dazwischen: »Der Ring ist da, der Ring ist da! Im Elsternnest hat er gelegen.«

Der Herr von Lindeneck wurde totenbleich. Er packte Kasperle so fest an der Schulter und schüttelte es, daß es dem ganz schwindlig wurde, und rief: »Wo ist der Ring, wer hat ihn gefunden?«

»Ich«, stotterte Kasperle, und dann erzählte es von seiner Flucht auf die Ulme und den kreischenden Elstern und von dem Ring. »Und du sollst zum Herzog kommen«, schloß es.

Das war doch wunderbar! So etwas hatte Kasperle noch nicht erlebt. Der Herr von Lindeneck weinte, und das traurige Marlenchen weinte auch. Der kleine Schelm sah sich ganz hilflos um, und er sah Eicke Pimperling kerzengerade[180] neben sich stehen und in die Luft starren. Da fragte er scheu: »Sind sie nun traurig?«

»Quatsch, du Laubfrosch, glücklich sind sie!«

»Ja, weint man denn da auch?«

Der Herr von Lindeneck hob plötzlich seine Arme und dehnte und reckte sich, als wäre eine schwere Eisenkette von ihm abgefallen, das Marlenchen aber fiel dem Kasperle um den Hals, als wäre es gar kein unnützes, blitzdummes Kasperle, sondern auch so ein feines, zartes Dinglein wie Marlenchen selbst. »O Kasperle, du liebes gutes Kasperle!« rief Marlenchen und streichelte Kasperle, bis das vor Vergnügen den Mund von einem Ohr zum andern zog. »Du gutes, gutes Kasperle, du bist der beste Bube auf der ganzen Welt!« fügte die Kleine hinzu.

Na, so viele freundliche und liebe Worte hatte Kasperle lange nicht gehört. Und da nahm es auch noch der Herr von Lindeneck auf seine Arme, streichelte es und sagte, er werde ihm immer dankbar sein. Es war wirklich fein.

Kasperle konnte nicht anders, es mußte ein paar Freudensprünge machen. Dann zupfte es eifrig Marlenchen, zupfte den Herrn von Lindeneck und bettelte: »Kommt, kommt, der Herzog wartet!«

»Er mag warten.« Der Schloßherr sah auf einmal aus, als sei er selbst der Herzog, und so gefiel es dem Kasperle noch besser. »Geh, Kasperle, sag ihm, wer ein Unrecht[181] gutmachen wolle, der müsse auch den Weg zu dem finden, dem er Unrecht getan hat. Wirst du das bestellen?«

»Nä!« rief Kasperle erschrocken. Das ging nicht so flink in seinen Kasperlekopf hinein, so etwas dem Herzog zu sagen.

Da rief Marlenchen mit klingendem Stimmlein: »Ich gehe mit dir, mein Herzenskasperle, ich fürchte mich gar nicht.«

»So geh!« Der Herr von Lindeneck strich seinem blassen Mädel über die dunklen Locken, und Kasperle legte seine Hand vergnügt in die des zarten Kindes. »Herzenskasperle« hatte es nur manchmal die schöne Frau Liebetraut genannt, es war arg stolz darauf, daß Marlenchen es auch so nannte.

Eicke Pimperling war es nicht ganz recht, daß Marlenchen allein mit dem Kasperle gehen sollte. »Mit so'nem Laubfrosch!« brummelte er eifersüchtig.

»Bin kein Laubfrosch.« Kasperle zog seine Hand aus der Marlenchens, und heidi, schoß es einen Purzelbaum über Eicke hinweg, kollerte gleich den halben Schloßberg hinab und blieb unten lachend liegen, bis Marlenchen es eingeholt hatte.[182]

Und dann gingen sie beide den Berg vollends hinab und über eine blühende Wiese nach dem Schlosse des Herzogs. Unterwegs erzählte Kasperle von seinen Erlebnissen und seinen Streichen, vom Geistern und von den ausgelaufenen Weinfässern.

»Aber, Kasperle!« Marlenchen blieb stehen und sah seinen Gefährten ganz erstaunt an.

Der senkte verlegen seine Nase. Doch da geschah etwas, über das er sich arg verwunderte. Ein Glöckchen fing an zu läuten, klinghell und fein, und als er aufsah, – lachte das traurige Marlenchen. Es lachte und lachte so, wie eine kleine Silberglocke tönt. Und es war gar nicht mehr das traurige Marlenchen, sondern ein sehr lustiges, schelmisches Marlenchen. Fast nicht mehr aufhören konnte es mit Lachen, und Kasperle fing auch an; sie lachten beide um die Wette und mußten sich zuletzt in das Gras setzen, denn Marlenchen, das so lange nicht gelacht hatte, behauptete, nun würde es gleich zerspringen vor Lachen. »Irgend etwas ist bestimmt zersprungen in mir«, sagte es vergnügt.

Aber das Marlenchen zersprang doch nicht ganz und gar, sondern sie besannen sich beide darauf, daß der Herzog wartete. Sie rannten also, so schnell sie konnten, dem Schlosse zu. Kasperle fand wieder das Seitenpförtchen und traf dort Veit, der auf es wartete. Der sagte: »Der Haushofmeister hat gemeint, du würdest allein kommen; aber wer ist denn das? Jemine, das ist ja das traurige Marlenchen! Und das sieht aus, als wäre es eben im Himmel gewesen.«

Marlenchens Augen glänzten, seine Bäckchen glühten. So trat es mit Kasperle vor den Herzog und sagte dort ganz frank und frei seines Vaters Botschaft. Es sah dabei[183] den Herzog unverwandt an, und der wurde nicht böse, wie Kasperle befürchtet hatte, der strich sogar sacht über Marlenchens dunkle Locken und sagte: »Ruhe dich aus, mein Kind, bis der Wagen bereit ist! Wir wollen gleich zu deinem Vater fahren.«

»Und ich fahr' mit«, rief Kasperle, und es blinkerte den Herzog mit seinen kleinen, lustigen Schelmenaugen so vergnügt an, daß der lachen mußte. So herzhaft hatte er lange nicht mehr gelacht. Und das Lachen tat ihm so gut wie ein ganzes Krüglein seines guten Weines. Freilich, zu zerspringen wie das Marlenchen drohte er nicht; bei der Kleinen war der schwere Kummer zersprungen, bei dem Herzog hätten der Mißmut und der Hochmut zerspringen müssen. Doch die lösten sich nur ein wenig und bekamen einen kleinen Riß.

Durch das Schloß tönte noch immer das laute Heulen aus dem Zimmer der Prinzessin, als der Herzog in den Wagen stieg. Es heulte jetzt schon die zweite Kammerfrau, die erste war nämlich heiser geworden. Aber der Herzog achtete gar nicht darauf, und als der Wagen davonfuhr, schnitt Kasperle sehr vergnügt ein böses Teufelsgesicht zu den Fenstern der Prinzessin hinauf.

Die stand am Fenster und sah es. Sie schrie vor Schreck und Wut laut auf und drohte dem Kasperle bitterböse hinab. Aber der kleine Schelm sah es gar nicht, sonst hätte er vielleicht nicht so vergnügt in des Herzogs Wagen gesessen. Der fuhr die Landstraße entlang, und diesmal schnitt Kasperle in seiner Fröhlichkeit die allerfreundlichsten Gesichter, und die Leute grüßten, knicksten, lachten und winkten mit Blumen und Taschentüchern. Da sah auch der Herzog vergnügt drein. Er lachte mit, und die Leute[184] sagten: »Nein, wie gut unser Herzog doch heute dreinschaut! Ach, wenn er doch immer ein so freundliches Gesicht machte!«

Es dauerte nicht lange, da war Schloß Lindeneck erreicht. Der Wagen fuhr den Berg hinan, Eicke Pimperling stand wie immer an dem Tor. Diesmal schrie er aber nicht: »Hier darf niemand herein!«, er half höflich dem Herzog aussteigen, und als Kasperle flink aus dem Wagen purzelte, da hielt er es am Kittel fest und sagte: »Bleib hier, die beiden müssen allein reden!«

Der Herr von Lindeneck saß inmitten des Schloßhofes am blühenden Rosenbusch, als der Herzog kam. Er stand auf und ging ihm entgegen, und dann standen sie beide lange an dem Rosenbusch und redeten miteinander; aber das Kasperle mochte noch so sehr seine Ohren spitzen, es hörte nichts.

Eicke Pimperling stand breit und fest da und hielt Kasperle immerzu am Jackenzipfel fest, denn er hatte doch Angst, das könnte wieder einen Purzelbaum über ihn hinweg schießen.

Endlich rief Marlenchens Vater sein Kind und Kasperle herbei, und der Herzog sagte zu beiden, er wolle noch eine Stunde dableiben und Erdbeeren essen, und Kasperle dürfe auch bleiben und sogar kaspern.

Das wurde eine lustige Stunde, die ein langes, langes Schwänzlein bekam. So lang wurde das Schwänzlein, daß schon der Himmel im Abendrot erglühte, als der Herzog heimfuhr.

Als Kasperle hinter dem Herzog das Schloß betrat, kam gerade die Prinzessin Gundolfine die Treppe herab. Sie tat, als wäre sie todkrank, hielt den Kopf geneigt, und als[185] sie den Herzog und Kasperle erblickte, schrie sie auf und wollte gleich wieder ohnmächtig werden. »Der da«, sagte sie und zeigte auf Kasperle, »der hat mir eben die Zunge herausgestreckt.«

Das war nun nicht wahr, denn Kasperle hatte beim Anblick der Prinzessin gleich den Kopf ganz tief gesenkt; Marlenchen hatte es ermahnt: »Sei brav und ärgere sie nicht, Kasperle!« Und Kasperle wollte doch so himmelgern von Marlenchen als brav angesehen werden. Es sagte darum gleich: »Ich hab' nichts getan, ich hab' keine Zunge 'rausgestreckt.«

»Doch, du hast es getan.« Die Prinzessin log ganz ungeniert, aber Kasperle wollte sich das nicht gefallen lassen; es rief trotzig: »Und ich hab' die Zunge doch nicht 'rausgestreckt! Ich hab' die Prinzessin gar nicht angesehen, sie – sie ist mir viel zu wüst!«

O Kasperle, das war schlimm!

Der Herzog runzelte verärgert die Stirn, und die Prinzessin fing schon wieder zu weinen an. Da sagte der alte Haushofmeister: »Mit Verlaub, Kasperle hat wirklich nicht die Zunge herausgestreckt, ich hab' es gesehen.«

»Aber wüst hat er mich genannt«, schrie die Prinzessin.

Das stimmte nun freilich, das hatten alle gehört. Und darum befahl der Herzog auch: »Kasperle, du bleibst auf deinem Zimmer und –« er drohte mit dem Finger.

Kasperle wußte wohl, das sollte heißen: »Geistere nicht herum!« Es hatte auch gar keine Lust dazu. Heute war es arg müde und froh, als es in seinem Bett lag. Es dachte an Marlenchen, und wie schön es auf dem Schloßhof von Lindeneck war, wo die Rosen um das rauschende Brünnlein herum blühten. Und da überkam das einsame Kasperle[186] wieder eine tiefe, tiefe Sehnsucht nach dem Waldhaus und einer fernen, schönen Insel, einer Insel, die ihm die rechte Heimat war. Es weinte bitterlich und schluchzte in seine Kissen hinein.

Jemand hörte das, es war der alte Haushofmeister. Der liebte das kleine, närrische, unnütze Kasperle wirklich, und als er es draußen weinen hörte, kam er durch das Schranktürlein in das Turmzimmer, streichelte Kasperle freundlich und saß dann noch so lange an dem Bett des kleinen Schelms, bis der fest und ruhig eingeschlafen war. Und als er ging, sagte er leise vor sich hin: »Ich wollte wirklich, unser Herzog sagte: ›Scher dich zum Teufel!‹ Aber das sagt er nicht, dazu ist er zu fein.«[187]